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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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wurden. Bisher waren sie verschont geblieben von den Fackeln, die man in den weiter unten gelegenen Kesparaten von Hand zu Hand reichte, von Dach zu Dach. Aber bestimmt dauerte es nicht mehr lange, bis sie ebenfalls dem Feuer zum Opfer fielen, prophezeite Nikaetomaas. Wenn die Flammen der Aufständischen auch hier loderten, so kamen die Säulen der Steuergerichte und des Justizzentrums sicher nicht ungeschwärzt davon. Doch derzeit schritten die Wanderer zwischen Monolithen, unter denen es ebenso still war wie in Mausoleen.
    Ein Stück davon entfernt begriff Gentle, warum Nikaetomaas so verdreckte Kleidung für sie gewählt hatte. Sie näherten sich nicht einem der großen Palasttore, sondern einem kleineren Portal, vor dem zerlumpte Gestalten warteten. Einige von ihnen trugen Kerzen, und in ihrem flackernden Schein sah Zacharias verletzte, deformierte Körper.
    »Warten sie auf Einlaß?« fragte er die große Frau an seiner Seite.
    »Nein. Dies ist das Tor der Heiligen Creaze und Evendown.
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    Haben Sie nicht in der Fünften von ihnen gehört? Angeblich starben sie dort den Märtyrertod.«
    »Durchaus möglich.«
    »Sie erscheinen überall in Yzordderrex, finden Erwähnung in Kinderliedern, treten beim Puppenspiel auf...«
    »Und hier? Manifestieren sich die Heiligen an diesem Ort?«
    »In gewisser Weise.«
    »Auf was warten diese Leute?« Gentle beobachtete die mitleiderweckenden Gestalten. »Auf Heilung?«
    Die Gruppe konnte das eine oder andere Wunder gut gebrauchen. Bei einigen Männern und Frauen quoll Eiter aus aufgeplatzten Wunden, und sie wirkten so schwach, daß Gentle bezweifelte, ob sie bis zum nächsten Morgen überleben würden.
    »Nein«, erwiderte Nikaetomaas. »Sie sind wegen Nahrung hier. Ich hoffe nur, daß die Heiligen von der Revolution nicht zu sehr abgelenkt sind.«
    Die Manglerin hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als auf der anderen Mauerseite ein Motor ansprang. Das tuckernde Brummen wurde rasch lauter, und dadurch gerieten die Leute vor dem Portal in jähe Raserei. Krücken verwandelten sich in Waffen, und stinkender Speichel spritzte, als die Kranken und Invaliden nach vorn drängten, dem bevorstehenden ›Wunder‹
    entgegen. Nikaetomaas schob Gentle durchs Gedränge, und es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als um sich zu schlagen - er mußte gegen die armen Teufel kämpfen, um nicht zu riskieren, daß man ihm Arme und Beine ausriß. Mit gesenktem Kopf bahnte er sich einen Weg durch die Menge, als das Tor aufschwang.
    Das Etwas auf der anderen Seite veranlaßte Dutzende von Bittstellern zu ehrfürchtigem Stöhnen, und auch Gentle riß verblüfft die Augen auf. Ein fast fünf Meter großes kitschiges Gebilde setzte sich in Bewegung und füllte gleich darauf das ganze Portal aus: eine Darstellung der beiden Heiligen Creaze 646

    und Evendown, Schulter an Schulter, die Arme ausgestreckt.
    Die Augen rollten und wackelten wie bei Karnevalsfiguren und starrten so auf die Menge hinab, als fürchteten sich die Heiligen in der einen Sekunde, um in der nächsten in Ekstase zu geraten. Aber es waren vor allem die Gewänder der bizarren Erscheinungen, die Zacharias so sehr erstaunten. Die angeblichen Heiligen trugen Freigebigkeit: Nahrung von Kopf bis Fuß. Jacken aus frisch gebratenem Fleisch bedeckten die Oberkörper; dampfende Würstchen bildeten Ketten an Hälsen und Handgelenken; an den Hüften hingen Beutel mit Brot, während die langen Röcke aus Obst und Fisch bestanden. Die Kranken und Verkrüppelten drängten noch entschlossener nach vorn, um die beiden riesenhaften Gestalten zu entkleiden. Jeder Hungrige dachte nur an sich selbst, und ein wildes Durcheinander entstand.
    Die Heiligen waren nicht völlig schutzlos und sehr wohl imstande, die Unersättlichen zu strafen: Zwischen den Leckereien am Leib wimmelte es von Haken und Stacheln. Doch die Verehrer achteten nicht darauf, kletterten an den Röcken der beiden Statuen empor, schenkten Obst und Fisch keine Beachtung - ihnen stand der Sinn nach den Steaks und Würstchen weiter oben. Einige von ihnen verloren den Halt und fielen, wobei sie in Gefahr gerieten, sich dabei an den langen Stacheln und Dornen aufzuspießen. Andere kletterten über die Gefallenen hinweg und stießen triumphierende Schreie aus, als sie ihr Ziel erreichten und sofort damit begannen, ihre Rucksäcke zu füllen. Doch es gab keine Sicherheit für sie. Die Leute unter ihnen zerrten an ihren Beinen, stahlen ihnen die Beute und warfen sie Komplizen in der Menge

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