Imagica
zur Festung des Autokraten.
Zuerst schwieg Zacharias, doch schließlich schnitt er das Thema Estabrook an. Wie ging es ihm? Litt er noch immer an Wahnsinn?
»Er war halbtot, als wir ihn fanden«, sagte Nikaetomaas.
»Sein Bruder glaubte, ihn als Leiche zurückgelassen zu haben.
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Nun, wir nahmen ihn zu unseren Zelten in der Rasur mit, um ihn dort zu heilen. Besser gesagt: Der dortige Aufenthalt heilte ihn.«
»Und die ganze Zeit über hielten Sie ihn für mich?«
»Wir wußten, daß jemand aus der Fünften kommen würde, um die Rekonziliation herbeizuführen. Und natürlich wußten wir, daß nicht mehr viel Zeit verstreichen konnte, bis es geschah. Nur das Erscheinungsbild der betreffenden Person blieb uns unbekannt.«
»Nun, es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber Sie haben sich gleich zweimal geirrt. Auch ich bin nicht der, den Sie sich erhoffen.«
»Warum sind Sie dann hier?« erwiderte die Frau.
Diese Frage verdiente eine ehrliche Auskunft, die nicht nur Nikaetomaas nutzen konnte, sondern auch ihm selbst.
»Ich habe nach Antworten gesucht, die ich nicht auf der Erde finden konnte«, sagte Gentle. »Ein Freund von mir starb sehr jung. Eine mir gut bekannte Frau wäre fast ermordet worden...«
»Judith.«
»Ja, Judith.«
»Wir haben oft von ihr gesprochen«, erläuterte Nikaetomaas.
»Estabrook war regelrecht besessen von ihr.«
»Hat sich etwas daran geändert?«
»Keine Ahnung. Ich habe ihn seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen. Er versuchte, Judith hierher nach Yzordderrex zu bringen, doch sein Bruder griff ein.«
»Ist sie hier?«
»Nein, offenbar nicht«, sagte Nikaetomaas. »Aber Athanasius glaubt, daß sie früher oder später eintrifft. Er meint, sie gehört zur Geschichte der Rekonziliation.«
»Wie kommt er darauf?«
»Wahrscheinlich liegt es an Estabrooks Besessenheit. Er sprach so von Judith, als sei sie eine Heilige, und Athanasius mag heilige Frauen.«
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»Nun, ich kenne sie recht gut, und eines darf ich Ihnen versichern: Sie ist keine Jungfrau Maria.«
»Bei unserem Geschlecht gibt es auch andere Arten von Heiligkeit.« Nikaetomaas klang gereizt.
»Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Aber eins steht fest: Judith hat es immer verabscheut, in den Himmel gehoben zu werden.«
»Dann sollten wir uns vielleicht nicht mit dem Götzenbild befassen, sondern mit seinem Verehrer. Athanasius bezeichnet die Besessenheit als Feuer für unsere Feste.«
»Was bedeutet das?« fragte Gentle.
»Wir müssen die Mauern um uns herum niederbrennen, doch dazu sind sehr heiße Flammen notwendig.«
»Zum Beispiel Besessenheit?«
»Das ist eine der Flammen, ja.«
»Warum sollte uns überhaupt daran gelegen sein, die Mauern niederzubrennen? Sie schützen uns doch, oder?«
»Wenn wir nichts gegen sie unternehmen, sterben wir im eigenen Kerker, während wir unsere Spiegelbilder küssen«, sagte Nikaetomaas. Die Antwort klang zu glatt, um improvisiert zu sein.
»Ein weiteres Zitat von Athanasius?« erkundigte sich Gentle.
»Nein. Es stammt von meiner Tante. Seit Jahren ist sie in der Bastion gefangen, doch hier drin...« Nikaetomaas tippte sich an die Schläfe. »Hier drin trägt sie keine Fesseln.«
»Was ist mit dem Autokraten?« Zacharias' Blick wanderte zum Palast.
»Was soll mit ihm sein?«
»Küßt er dort oben sein Spiegelbild?«
»Wer weiß? Vielleicht ist er schon seit Jahren tot. Vielleicht herrscht der Staat über sich selbst.«
»Halten Sie das tatsächlich für möglich?«
Die große, muskulöse Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Er lebt, hinter jenen Wällen.«
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»Hinter Wällen, die ihn vor was schützen sollen?«
erkundigte sich Gentle.
»Keine Ahnung. Wovor auch immer er sich fürchtet, ich glaube nicht, daß es die gleiche Luft atmet wie wir.«
Bevor sie die von Schutt übersäten Straßen des Kesparats Hittahitte verließen - es erstreckte sich zwischen den Pforten des Eurhetemec-Viertels und den breiten Alleen des Verwaltungsbereichs von Yzordderrex -, wühlte Nikaetomaas in den Ruinen eines Hauses und suchte dort nach Dingen, mit denen sie sich tarnen konnten. Sie fand einige schmutzige Kleidungsstücke, beharrte darauf, daß Gentle sie überstreifte und nahm dann auch etwas für sich selbst. Sie mußten sich verhüllen, meinte die Manglerin, damit sie sich unter die Unglücklichen am Tor mischen konnten. Anschließend setzten sie den Weg fort und erreichten Straßen, die von großen Gebäuden im klassischen Stil gesäumt
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