Imagica
Wesen aus Wind und Leinen.
Im Leib des Geschöpfes sorgte der Wind dafür, daß alles in Bewegung blieb. Selbst besonders straff gespannte Planen zitterten; im Bereich der ›Dächer‹ flatterten Kanevasfetzen wie die Röcke von Derwischen und schienen dabei ständig zu seufzen. Personen befanden sich zwischen ihnen, wandelten so auf Seilbündeln, als handelte es sich um Bretterstege. Oder sie hockten in großen, fensterartigen Öffnungen und blickten zur Grenze der Ersten Domäne hinüber, als rechneten sie damit, eine Stimme zu hören, die sie zu jenem Ort rief. Wenn tatsächlich einmal eine solche Stimme erklingen sollte, dann stand aber sicher kein hektischer Aufbruch bevor: Es herrschte eine ruhige Atmosphäre, die von Würde und Erhabenheit kündete.
»Wo finden wir einen Arzt?« fragte Gentle.
»Hier gibt es keine Ärzte«, antwortete Floccus. »Folgen Sie mir. Ich kenne einen Ruheplatz für den Mystif.«
»Es muß doch jemand hier sein, der medizinische Hilfe zu 762
leisten vermag.«
»Frisches Wasser und Kleidung stehen zur Verfügung. Vielleicht auch Laudanum oder dergleichen. Wie dem auch sei: Medikamente nützen Pie nichts - damit läßt sich kaum etwas gegen die Fäule ausrichten. Nur die Nähe zur Ersten Domäne kann ihn heilen.«
»Dann sollten wir uns sputen, um Pie näher zur Rasur zu bringen«, schlug Gentle vor.
»Wir sind ihr bereits ziemlich nahe«, entgegnete Dado. »Und wir haben nicht annähernd genug Widerstandskraft, um uns noch dichter an die Grenze heranzuwagen.«
Er geleitete Gentle durch den bebenden Körper des goldenen Geschöpfes zu einem kleineren Zelt, in dem zwölf schlichte Betten standen, einige davon belegt, die anderen leer. Gentle ließ Pie auf eine dünne Matratze sinken und knöpfte ihm das Hemd auf, während Floccus forteilte, um kühles Wasser für die glühende Haut des Mystifs zu holen. Außerdem wollte er etwas zu essen besorgen, für sich selbst und auch für Gentle.
Während Zacharias wartete, versuchte er, einen Eindruck von der Fäule zu gewinnen. Sie hatte sich schon so sehr in Pies Körper ausgebreitet, daß er sie nicht untersuchen konnte, ohne den Mystif ganz zu entkleiden. Er wußte, daß Pie'oh'pah großen Wert auf seine Privatsphäre legte - es hatte Wochen gedauert, bis er seine nackte Schönheit offenbarte -, und dieses Schamgefühl wollte Gentle auch jetzt respektieren. Doch nur wenige Leute, die an dem Bett vorbeigingen, warfen der Gestalt darauf einen Blick zu, und nach einer Weile spürte Gentle, wie Furcht und Besorgnis weniger heftig in ihm vibrierten. Mehr konnte er nicht für Pie tun. Sie befanden sich am Rand der bekannten Domänen: Hier endeten alle Landkarten; hier begann das größte aller Rätsel. Welchen Sinn hatte Furcht angesichts des Unwägbaren? Er mußte sie überwinden, sich statt dessen auf Würde und Anstand besinnen, den hiesigen Mächten vertrauen.
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Als Floccus mit den notwendigen Utensilien zurückkehrte, um Pie zu waschen, äußerte Gentle seinen Wunsch, mit dem Mystif allein zu sein.
»Kein Problem«, erwiderte Dado. »Ich habe hier Freunde und gehe zu ihnen.«
Der kleine Mann verschwand, und Zacharias begann damit, den Kranken zu waschen. Die Fäule hatte Dutzende von Pickeln geschaffen, die silbrigen Eiter absonderten; ein scharfer Geruch ging davon aus, wie Ammoniak. Der Körper schien nicht nur geschwächt zu sein, sondern auch seine Konsistenz zu verlieren. Es sah so aus, als drohte dem Fleisch Auflösung, als verwandelte es sich allmählich in Rauch. Gentle fragte sich, ob die Fäule dafür verantwortlich war - oder ob das Phänomen auf den gegenwärtigen Zustand des Mystifs zurückging, auf den Umstand, daß die Kraft des Lebens aus ihm heraussickerte und mit ihr die Fähigkeit, das Erscheinungsbild den Wünschen und Erwartungen des Betrachters anzupassen. Eine Zeitlang dachte er darüber nach, auf welche Weise er Pie schon gesehen hatte: als Judith; als einen Killer, in die Rüstung der Nacktheit gehüllt; und als liebevollen Hermaphroditen während ihrer Hochzeitsnacht in der Wiege - dabei war Pie'oh'pahs Gesicht zu einem Spiegel geworden, in dem er die eigenen Züge erkannte, einer Prophezeiung gleich, die Sartori ankündigte. Jetzt schien es nur noch aus seltsam schimmerndem Dunst zu bestehen, der fortwich, wenn er ihn berührte.
»Gentle? Sind Sie das? Ich wußte gar nicht, daß Sie im Dunkeln sehen können.«
Zacharias hob den Blick von Pies Körper und stellte fest, daß die Finsternis der Nacht
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