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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Geschöpf mit den vielen Rückententakeln setzte sein zärtliches Werk fort, bis sich ein zusätzlicher Schleier herabsenkte, so dicht, daß er Dunkelheit und Vergessen brachte und alle Gefühle aus Judith tilgte.
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KAPITEL 40
l
    Aus der Ferne gesehen boten die Zelte der Mangler einen eindrucksvollen Anblick: Gentle verglich sie mit den Segeln von Galeonen, die nicht das Meer durchpflügten, sondern den Sand und Staub der Wüste. Seine Ehrfurcht wuchs, als sie sich näherten und das Ausmaß jener ›Gebäude‹ klar wurde: Fünf oder mehr Stockwerke weit ragten sie auf, wogende Bauwerke aus ockergelben und scharlachroten Planen. In dieser Umgebung wirkten die Farben besonders lebhaft: Die Wüste mochte einst braun gewesen sein, doch jetzt war sie fast schwarz, und darüber spannte sich ein grauer Himmel, der die Grenze darstellte zwischen der Zweiten Domäne und jener unbekannten Welt, in der Hapexamendios herrschte. Floccus hielt etwa einen halben Kilometer vor dem Lager an.
    »Ich sollte vorausgehen«, sagte er. »Um zu erklären, wer wir sind und was uns hierherführt.«
    »Beeilen Sie sich«, erwiderte Gentle.
    Wie ein Gazelle sauste Dado fort, eilte über einen Boden, der nicht mehr aus Sand bestand, sondern aus Myriaden Steinsplit-tern, als seien hier Bildhauer am Werk gewesen, um eine gewaltige Statue zu schaffen. Gentle sah auf Pie hinab, der in seinen Armen ruhte und schlief, das Gesicht ausdruckslos, die Stirn völlig glatt. Er strich ihm über die kühle Wange und fragte sich dabei, wie oft er im Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte Freunde und Gefährten verloren habe. Der damit einhergehende Schmerz gehörte zur vergessenen Vergangenheit, aber bestimmt hatte er Spuren hinterlassen -
    vielleicht in Form seiner Abscheu Krankheiten gegenüber, oder der Kühle im eigenen Herzen. Vielleicht war er immer ein Schwerenöter und Plagiator gewesen, ein Meister falscher Ge-760

    fühle. Doch das konnte wohl kaum eine Überraschung sein, wenn man berücksichtigte, daß er tief in seinem Innern die ganze Zeit über gewußt hatte, daß die Dramen des Lebens einerseits volle Aufmerksamkeit verlangten, daß sie das Selbst häufig in seinen Grundfesten erschütterten, und sich andererseits durch eine zyklische Natur auszeichneten. Die Gesichter veränderten sich dauernd, aber die Story blieb die gleiche. Klein hatte recht, wenn er behauptete, daß es keine Originalität gebe. Alles war schon einmal gesagt, schon einmal erlitten worden. Und wenn man diese Erkenntnis verinnerlichte... Mußte die Konsequenz nicht daraus bestehen, daß man nur mehr mechanisch liebte und den Tod für eine Szene hielt, die es zu vermeiden galt? Weder das eine noch das andere lockte mit wahrhaft neuer Weisheit. In beiden Fällen handelte es sich um weitere Runden des Lebenskarussells: Man sah andere Gesichter, die hier lächelten und dort den Schatten des Kummers trugen.
    Doch Gentles Empfindungen dem Mystif gegenüber basierten auf einer realen, festen Grundlage. In Pies Selbstverleugnung - Ich bin nichts und niemand, hatte er ganz zu Anfang gesagt - hörte er ein Echo der Pein, die auch in ihm wohnte. Die Last vieler Jahre prägte seinen Blick und wies darauf hin, daß er jene Art von Schmerz verstand, die in Gentles Seele brannte. Pie'oh'pah hatte ihm Scham und Schande genommen, ihm etwas von dem zurückgegeben, was einem Maestro gebührte. Solche Macht verlangte, für gute Zwecke eingesetzt zu werden. Er stellte sich vor, damit Wunden zu heilen, Rechte zu verteidigen, ganze Nationen wachzurütteln und Hoffnungen zu erneuern. Wenn er ein erfolgreicher Rekonziliant sein wollte, brauchte er die Inspiration des Mystifs.
    »Ich liebe dich, Pie'oh'pah«, murmelte er.
    »Gentle.«
    Es war Dados Stimme - der kleine Mann kehrte zum Wagen 761

    zurück.
    »Ich habe mit Athanasius gesprochen. Er meinte, wir sollten sofort kommen.«
    »Gut! Gut!« Gentle stieß die Tür auf.
    »Brauchen Sie Hilfe in bezug auf Pie?«
    »Nein. Ich trage ihn.«
    Gentle stieg aus, beugte sich dann ins Auto und hob den Mystif vom Rücksitz.
    »Ihnen ist hoffentlich klar, daß dieser Ort heilig ist«, sagte Floccus, als er Zacharias zu den Zelten führte.
    »Gesang, Tanz und Furzen sind verboten, wie? Oh, keine Sorge, Floccus - ich verstehe.«
    Als sie näher kamen, sah Gentle: Was er bisher für ein Lager aus dicht nebeneinander stehenden Zelten gehalten hatte, entpuppte sich als eine Art Entität. Zahllose Pavillons und noch mehr kleinere Zelte formten ein goldenes

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