Imagica
herangekrochen war, während er den Mystif gewaschen hatte. Kerzen brannten neben den anderen belegten Betten, doch im Bereich von Pie'oh'pahs Liege herrschte Dunkelheit. Kein Wunder, daß ihm der Leib des Kranken kaum Einzelheiten zeigte.
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»Es überrascht mich ebenso wie Sie«, sagte Gentle. Er stand auf und trat dem Neuankömmling entgegen.
Athanasius hielt eine Laterne in der Hand, und die Flamme darin war ebensosehr den Launen des Windes ausgeliefert wie die Planen des Zeltes. Ganz offensichtlich hatte der Priester während der Zerstörung von Yzordderrex Verletzungen erlitten. Gentle sah Schnittwunden an Wangen und Hals und einen großen Fleck am Bauch. Doch solche
Unannehmlichkeiten spielten für ihn sicher keine Rolle: Immerhin feierte er den Sonntag, indem er sich eine neue Dornenkrone aufs Haupt setzte.
»Bitte entschuldigen Sie, daß ich nicht schon früher gekommen bin, um Sie zu begrüßen«, sagte er. »Man bringt viele Verletzte zu uns, und daher beanspruchen die Sterbesakramente einen großen Teil meiner Zeit.«
Gentle nahm diese Bemerkung sprachlos hin, spürte jedoch, wie ihm neuerliche Besorgnis über den Rücken kroch.
»Hunderte von Soldaten des Autokraten kommen hierher, und das macht mich nervös. Vielleicht trifft irgendwann jemand ein, der mit einer selbstmörderischen Mission beauftragt ist und alles in die Luft jagt. Vielleicht will der verdammte Tyrann, daß allgemeine Zerstörung sein Ende begleitet - es sähe ihm ähnlich.«
»Ich glaube, er ist viel zu sehr bemüht, sich in Sicherheit zu bringen«, entgegnete Gentle.
»Wohin könnte er fliehen? Die Nachricht hat sich wie ein Lauffeuer in Imagica ausgebreitet. In Patashoqua finden bewaffnete Aufstände statt, und auch auf dem Fastenweg wird gekämpft. Alle Domänen erzittern, sogar die Erste.«
»Die Erste? Woher wissen Sie das?«
»Haben Sie es nicht gesehen? Nein, offenbar nicht. Kommen Sie.«
Gentle sah zu Pie hinunter.
»Hier droht dem Mystif keine Gefahr«, versicherte ihm 765
Athanasius. »Und wir bleiben nicht lange fort.«
Er führte Gentle durch einige Gassen zu einer Tür, durch die sie nach ›draußen‹ gelangten, in die immer dunkler werdende Abenddämmerung. Floccus Andeutungen hatten vermuten lassen, daß es riskant wäre, sich der Grenze zur Ersten noch weiter zu nähern, doch nichts geschah. Entweder gewährte die Nähe von Pater Athanasius Schutz, oder Dado hatte Zacharias'
Widerstandskraft unterschätzt: Er konnte das Spektakel weiter vorn betrachten, ohne daß sich negative Konsequenzen einstellten.
Es gab keine Wand oder Mauer irgendeiner Art, um das Ende der Zweiten und den Beginn der Ersten Domäne zu kennzeichnen. Wer Nebel erwartete oder ein geheimnisvolles Zwielicht, mußte ebenfalls eine Enttäuschung hinnehmen. Die Wüste löste sich einfach im Nichts auf, wie ein Gemälde, das von einer verborgenen Macht ausradiert und gelöscht wurde: Erst gingen Konturen verloren, dann Farbe und Einzelheiten.
Dieses subtile Verschwinden von konkreter Realität in substanzloser Leere... Nie zuvor hatte Gentle etwas Beunruhigenderes beobachtet. Die Parallelen zum Zustand des Mystifs waren offensichtlich.
»Unheimlich«, hauchte er.
Athanasius starrte zum Nichts hinüber und schien nach etwas zu suchen.
»Die Rasur ist nicht stabil«, erwiderte er. »Gelegentlich vibriert und wogt es darin.«
»Passiert das häufig?«
»Es soll dann und wann zu solchen Erscheinungen gekommen sein, aber es existieren keine Aufzeichnungen irgendwelcher Art. Kaum ein Forscher wagt es, hier längere Untersuchungen anzustellen. Beobachter werden poetisch, und Wissenschaftler verwandeln sich in Dichter von Sonetten.«
Athanasius lachte. »Das war ein Scherz. Falls Sie besorgt sind, wenn Ihre Beine damit beginnen, Verse zu schmieden.«
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»Was empfinden Sie bei diesem Anblick?« fragte Gentle.
»Ich fühle Furcht«, antwortete der Priester. »Weil ich noch nicht bereit bin, jenen Ort aufzusuchen.«
»Das gilt auch für mich«, sagte Zacharias. »Aber Pie... Vielleicht ist für ihn die Zeit gekommen, sich von der Leere dort aufnehmen zu lassen? Ich bedauere jetzt, daß ich hier bin, Athanasius. Möglicherweise sollte ich Pie fortbringen, solange ich es noch kann.«
»Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Ich bezweifle jedoch, ob der Mystif überlebt, wenn Sie jetzt eine neuerliche Reise mit ihm beginnen. Die Fäule zerfrißt ihn innerlich. Nur hier, in der Nähe der Ersten Domäne, hat er eine Chance, geheilt zu
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