Imagica
Gentle, der verblüfft emporstarrte und die Flucht vergaß.
»Sie gehört mir!« heulte Quaisoir und stürzte auf Zacharias herab, mit der gleichen Zielsicherheit, die sie auch bei einem intimeren Anlaß bewiesen hatte. Mit ausgestreckten Armen kam sie heran, bereit dazu, Gentle den Tod zu bringen.
Glücklicherweise reagierte Jude schnell genug, warf sich vor den Mann und rief Quaisoirs Namen. Die andere Frau schwebte dicht vor ihr, und nur wenige Zentimeter trennten ihre Fingerkuppen vom Gesicht der Schwester.
»Ich gehöre dir nicht!« rief Judith. »Ich gehöre niemandem!
Hast du gehört?«
Quaisoir neigte den Kopf von einer Seite zur anderen und kreischte wütend. Die von ihrer Stimme ausgelösten Vibrationen waren zuviel für die Decke: Sie gab endgültig unter dem Gewicht der vielen großen und kleinen Steinbrocken nach, die sich darüber angesammelt hatten. Es wäre der Blinden sicher nicht sehr schwer gefallen, den Konsequenzen ihres Schreis zu entkommen. Auf dem Blassen Hügel hatte sie sich blitzschnell bewegt. Es kam einzig und allein auf ihren Willen an - und daran mangelte es ihr nun. Sie wandte das Gesicht dem herabfallenden Schutt zu, schrie auch weiterhin und forderte dabei den Zapfen und seinen Turm auf, sie zu begraben. Es war ein langsamer Tod. Quaisoirs Stimme ertönte noch immer, als Gentle Judiths Hand ergriff und sie mit sich zerrte. In dem Durcheinander verlor er völlig die Orientierung, und nur Concupiscentias Heulen im Korridor wies ihm den Weg zur Tür.
Sie schafften es, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, der Lawine zu entgehen. Staub klebte an ihnen, bildete eine zweite Haut, eine schmierige Patina. Quaisoirs Todesschrei verklang 832
nun, doch weiter oben schwoll das Donnern an. Gentle und Judith sprangen von der Tür fort und rannten weiter, da sich bereits Risse in der Decke und den Wänden ausdehnten.
Concupiscentia jammerte nicht mehr und stellte sich der Erkenntnis, daß es für ihre Herrin keine Hoffnung mehr gab.
Sie stürmte ebenfalls durch den Korridor, noch schneller als die beiden Menschen, überholte sie und floh zu irgendeinem Sanktuarium, um dort ein Klagelied zu singen.
Jude und Zacharias liefen, bis sich kein Gestein mehr über ihnen erstreckte, das einstürzen konnte, bis sie einen Hof erreichten, auf dem Bienen summten und Nektar an Büschen saugten, die ausgerechnet diesen Tag für die erste Blüte gewählt hatten. Erst dann hielten sie inne, schlangen die Arme umeinander und seufzten dankbar, während der Boden unter ihnen bebte und in der Ferne Vernichtung grollte.
3
Der Boden zitterte immer noch, als Judith und Gentle den Palast schon weit hinter sich gelassen hatten und sich ihren Weg durch die Ruinen von Yzordderrex bahnten. Auf Judes Vorschlag hin kehrten sie zu ›Sünder‹ Hebberts Haus zurück, denn von dort aus, so erklärte sie Zacharias, führte ein Weg zur Fünften. Er erhob keine Einwände. Zwar hatte er längst nicht alle Versteckmöglichkeiten im Palast überprüft - wie sollte das angesichts eines so gewaltigen Gebäudekomplexes möglich sein? -, aber er war müde, geistig ebenso wie körperlich. Wenn sein anderes Selbst nach wie vor in Yzordderrex weilte, so stellte es kaum eine Gefahr dar. Es ging in erster Linie darum, die Fünfte Domäne vor Sartori zu schützen - sie hatte ihr magisches Machtpotential verloren und konnte ihm leicht zum Opfer fallen.
Die Straßen der meisten Kesparaten waren kaum mehr als blutige Täler zwischen Bergen aus Schutt und Trümmern, doch Judith entdeckte genug vertraute Dinge, um den Weg zu jenem 833
Viertel zu finden, in dem Hebberts Haus gestanden hatte. Nach anderthalb Tagen des Chaos gab es natürlich keine Garantie dafür, daß es noch existierte, aber Gentle und Jude brachten die Bereitschaft mit, sich nötigenfalls bis zum Keller durchzu graben.
Nach ein oder zwei Kilometern beendeten sie ihr Schweigen, und ein Gespräch begann, in dem Gentle Quaisoirs Reaktion auf seine Stimme erklärte. Er leitete seinen Bericht ein mit dem Hinweis, daß er sich weder entschuldigen noch rechtfertigen wolle. Ihm ginge es einzig und allein um eine objektive Schilderung, unbeeinträchtigt von irgendwelchen persönlichen Dingen. Während er sprach, versuchte er tatsächlich, sich einen neutralen Blickwinkel zu bewahren, doch als er von seiner Begegnung mit dem Autokraten erzählte, glitten Gentles Erinnerungen ins Subjektive, und er malte Judith ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Sie gewann den Eindruck,
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