Imagica
tastete nach dem Monolithen. Dunkelheit umhüllte ihn, aber Gentle bemerkte eine schattenhafte Bewegung, als die Gestalt den Kopf drehte und zur Tür sah.
Seine Faust flog zum Mund, bevor das andere Selbst irgend etwas unternehmen konnte, fing den Atem und holte aus, um ihn zu schleudern. Im gleichen Augenblick ertönte eine Stimme, und Zacharias begriff, daß er sich geirrt hatte: Vor ihm stand kein Mann, sondern eine Frau. Er hielt die Hand geschlossen und versuchte, das Pneuma zu zerquetschen, aber 824
es wollte nicht um ein Opfer betrogen werden, zwängte sich zwischen den Fingern hervor und verlor dabei seine Einheit, ohne an Kraft einzubüßen. Die einzelnen Teile flogen durch den Turm. Einige von ihnen sausten an den Flanken des Zapfens empor; andere bohrten sich in seinen Schatten und verschwanden dort. Die Frau stieß einen erschrockenen Schrei aus, wich zurück und taumelte zur Wand. Dort sickerte Licht auf sie herab, zeigte ihre Schönheit. Judith! So schien es zumindest - Zacharias hatte dieses Gesicht schon einmal in Yzordderrex gesehen und später erfahren, daß es nicht der Frau gehörte, die er kannte.
»Gentle?« fragte sie. »Bist du das?«
Sie klang auch wie Judith. Aber ich habe Roxborough versprochen, eine Kopie zu schaffen, die sich nicht vom Original unterscheidet, nicht wahr?
»Ich bin's«, fügte die Gestalt hinzu. »Jude.«
Das letzte Wort bewies mehr als Erscheinungsbild und Klang. Kein anderer Verehrer hatte Judith jemals ›Jude‹
genannt - dieses Privileg beschränkte sich allein auf Gentle.
Manche Leute sprachen sie mit Judy oder Juju an, doch den anderen Spitznamen benutzte nur John Furie Zacharias.
Er wiederholte ihn nun und ließ dabei die Hand vom Mund sinken. Als die Frau das Lächeln auf seinen Lippen sah, wagte sie es, sich ihm zu nähern, und kehrte in den Schatten des Zapfens zurück. Dieser Schritt rettete ihr das Leben. Nur zwei oder drei Sekunden später krachte es, als ein großer Stein -
vom Pneuma weit oben aus der Turmmauer gelöst - genau dort auf den Boden fiel, wo Judith eben noch gestanden hatte. Er markierte den Beginn eines Hagels aus Splittern, doch die gewaltige Masse des Zapfens gewährte Schutz, und dort trafen sie sich, schlangen die Arme umeinander und küßten sich so, als seien sie nicht wenige Wochen, sondern ein Leben lang voneinander getrennt gewesen, was in gewisser Weise auch der Fall war. Die von den herabfallenden Steinen verursachten 825
Geräusche schienen plötzlich in weite Ferne zu rücken, und Gentle konnte Judiths Worte ganz deutlich hören, obgleich sie nur flüsterte.
»Ich habe dich vermißt...«, hauchte sie, und ihre Fingerkuppen strichen ihm über die Wangen. Nach all den Schmerzen, Vorwürfen und Anklagen brachte ihre Stimme überaus angenehme Wärme. »Du bist mir im Traum erschienen...«
»Erzähl mir davon«, murmelte er. Nur wenige Zentimeter trennten seine Lippen von den ihren.
»Vielleicht später«, erwiderte Judith und küßte ihn erneut.
»Ich habe eine Menge zu erzählen.«
»Das gilt auch für mich«, sagte Gentle.
»Wir sollten einen sicheren Ort aufsuchen«, schlug die Frau vor.
»Hier sind wir geschützt.«
»Ja, aber wie lange noch?«
Immer mehr Steine stürzten herab und schufen ein Chaos, das in keinem Verhältnis stand zu der von Gentle freigesetzten Kraft - der Zapfen schien das Zerstörungspotential des Pneumas zu verstärken. Vielleicht wußte der Monolith, daß sein Herr nicht mehr zugegen war; vielleicht wollte er sich nun aus dem Kerker befreien, den Sartori um ihn herum errichtet hatte. Wenn es ihm darum ging, so kündigte sich bereits ein Erfolg an: Die herabdonnernden Steine wurden immer größer, und ihr Aufprall genügte, um Risse in den Bodenplatten des Turms entstehen zu lassen. Judith beobachtete diesen Vorgang und riß die Augen auf.
»O Gott, Quaisoir!« entfuhr es ihr.
»Was ist mit ihr?«
»Sie befindet sich dort unten!« stieß Jude entsetzt hervor. »In einer Kammer unter dem Turm.«
»Bestimmt hat sie den Raum inzwischen verlassen.«
»Nein, sie ist benommen, steht unter der Wirkung von 826
Kreauchee. Wir müssen sie in Sicherheit bringen!«
Judith wandte sich von Gentle ab und näherte sich dem Rand des Schattens, der den sicheren Bereich markierte. Ein neuer Regen aus Schutt hinderte sie daran, zur Tür zu eilen.
Zacharias sah nun, daß nicht mehr nur Mauersteine des Turms herabfielen, sondern auch Fragmente des Zapfens. Welche Schlüsse ließen sich daraus ziehen?
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