Imagica
wichtige Informationen zu vermitteln... So etwas deutete auf Geistesge-störtheit hin. Und Estabrook, der sich mit dem Irren einließ -
mußte er nicht noch verrückter sein? Und ich selbst? dachte Gentle. Nur ein Übergeschnappter kann auf das Anliegen eines Verrückten eingehen.
Aber in diesem wirren Durcheinander gab es zwei unleugbare Fakten: Tod und Judith. Chant war in einem leerstehenden Haus in Clerkenwell gestorben. Eine Tatsache.
Und jetzt tastete das Verbrechen auch nach der nichtsahnenden Judith. Gentles Aufgabe bestand darin, es von ihr fernzuhalten.
Kurz nach siebzehn Uhr New Yorker Zeit betrat Gentle sein Hotel an der Ecke Zweiundfünfzigste Straße und Madison.
Kurze Zeit später befand er sich im vierzehnten Stock und sah aus dem Fenster in Richtung Stadtzentrum, doch der Anblick war nicht besonders einladend. Ein bleifarbener Himmel wölbte sich über der Metropole, und es regnete. Der Wetterbericht hatte noch niedrigere Temperaturen angekündigt
- vielleicht ging der Regen bald in Schnee über. Das kam Gentle gelegen. Die graue Düsternis und das Quietschen von Bremsen unten auf der Kreuzung entsprachen seiner derzeitigen Stimmung - er fühlte sich auf eine sonderbare Weise von der Realität getrennt. Hier in New York erging es ihm ebenso wie in London: Auch an diesem Ort hatte er einst Freundschaften geschlossen und sie später vergessen. Jetzt gab es hier nur noch ein Gesicht, das eine wichtige Rolle für ihn spielte, und das gehörte Judith.
Gentle beschloß, sofort mit der Suche zu beginnen. Er rief den Zimmerservice an, bestellte Kaffee und duschte.
Anschließend zog er eine Kordhose und seinen dicksten 86
Pullover aus dem Koffer an, außerdem wählte er eine Lederjacke und warme Stiefel.
Draußen wartete er zehn Minuten unter dem Vordach des Hotels, doch es waren nur wenige Taxis unterwegs. Voller Unruhe entschied er sich, zu Fuß zu gehen, in der Hoffnung, daß ihn die Kälte von der Benommenheit befreite. Als er die Siebzigste Straße erreichte, mischten sich erste Schneeflocken in das Nieseln, und Gentle spürte, wie ihn neue Kraft erfüllte.
Nur zehn Blocks entfernt begann jetzt Judith wahrscheinlich mit der Routine des frühen Abends; sie badete oder zog sich fürs Restaurant um. Zehn Blocks, jeweils eine Minute. Zehn Minuten, bis er vor dem Gebäude stand, in dem Judith wohnte.
2
Seit dem Mordanschlag war Marlin sehr besorgt und rief Judith häufig vom Büro aus an. Mehrmals schlug er ihr vor, sich an einen Psychologen zu wenden oder wenigstens mit einem seiner vielen Freunde zu sprechen, die in den Straßen von Manhattan schon einmal überfallen worden waren. Sie lehnte ab. In physischer Hinsicht fehlte ihr nichts, und sie glaubte, auch psychisch vollkommen in Ordnung zu sein. Natürlich wußte Judith, daß sich später noch unliebsame Konsequenzen ergeben konnten, zum Beispiel Depressionen oder Schlaf-losigkeit, aber bislang blieb sie davon verschont. Wenn sie des Nachts keine Ruhe fand, so deshalb, weil ihr der Zwischenfall immer mysteriöser erschien. Wer war jener Mann, der ihren Namen kannte und trotz seiner schweren Verletzungen schneller laufen konnte als ein Sportler? Warum hatte Jude geglaubt, in seinem Gesicht die Züge von John Zacharias zu erkennen? Zweimal war sie nahe daran gewesen, Marlin von den Ereignissen in und außerhalb des Kaufhauses zu erzählen, doch in beiden Fällen überlegte sie es sich anders - um nicht seinem gutmütigen Spott ausgesetzt zu sein. Sie allein mußte dieses Rätsel lösen, und dazu war Judith vielleicht nur 87
imstande, wenn sie es zunächst für sich behielt.
Marlins Apartment bot ihr ein ausreichendes Maß an Sicherheit. Zwei Männer hielten Wache: tagsüber Sergio, und nachts Freddy. Marlin hatte den Angreifer in allen Einzelheiten beschrieben und die Anweisung erteilt, niemanden ohne Miss Odells Erlaubnis in den ersten Stock zu lassen. Selbst dann sollten die Wächter den Besucher bis zur Tür begleiten - und ihn nach draußen eskortieren, wenn er sich als unerwünschter Gast erweisen sollte. Judith brauchte nichts zu befürchten, solange sie ihren Aufenthalt auf die Wohnung beschränkte.
Heute arbeitete Marlin bis um neun, und anschließend war ein spätes Essen geplant. Jude wollte den frühen Abend damit verbringen, mehrere Geschenke einzupacken, die sie während ihrer Einkaufstouren in der Fifth Avenue gekauft hatte, und diese Tätigkeit versüßte sie sich mit Wein und Musik. Marlins Plattensammlung enthielt zum
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