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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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größten Teil Verführungssongs aus seiner Jugend während der sechziger Jahre, und das war Judith nur recht. Sie hörte sich romantischen Soul an, trank gut gekühlten Sauvignon und genoß ihre eigene Gesellschaft. Ab und zu wandte sie sich von dem Durcheinander aus Geschenkpapier und bunten Schnüren ab, stand auf und trat an das Fenster, um die Kälte draußen zu registrieren. Das Glas beschlug, doch Judith verzichtete darauf, die Feuchtigkeit fortzuwischen. Sollte die Welt ruhig ihr Gesicht verlieren.
    Heute abend konnte sie ohnehin nichts damit anfangen.
    Als Gentle an der Kreuzung stehenblieb und über die Straße sah, bemerkte er eine Frau an einem der Fenster im ersten Stock. Er beobachtete sie einige Sekunden lang, und eine beiläufige Geste - die Gestalt hob die rechte Hand zum Nacken, zupfte dort am langen Haar - identifizierte die Silhouette als Judith. Sie warf keinen Blick über die Schulter, was den Schluß zuließ, daß sie allein war. Langsam hob sie ein Glas an die Lippen, nippte daran und starrte nach draußen.
    Gentle hatte es für nicht sehr problematisch gehalten, einen 88

    Kontakt zu ihr herzustellen, aber jetzt spürte er Distanz und Unnahbarkeit.
    Er entsann sich an seine erste, inzwischen viele Jahre zurückliegende Begegnung mit Jude - damals hatte sie fast Panik in ihm geweckt. Irgend etwas an ihr beeindruckte ihn so sehr, daß er sich innerlich verkrampfte. Die spätere Verführung war sowohl Huldigung als auch Rache - der Versuch, eine Person zu beherrschen, deren Macht er sich unterworfen fühlte.
    Bis zum heutigen Tag wußte Gentle nicht, was es mit jener
    ›Macht‹ auf sich hatte. Bei Judith handelte es sich zweifellos um eine sehr faszinierende Frau, aber Zacharias kannte andere, die ebenso faszinierend waren, ohne ihn deshalb gleich aus der Fassung zu bringen. Welcher Aspekt ihres Selbst versetzte ihn noch heute in eine solche Unruhe? Er beobachtete Judith, bis sie ins Zimmer zurückwich, und dann hielt er den Blick noch länger aufs Fenster gerichtet. Nach einer Weile spürte er die Kälte in den Füßen und setzte sich wieder in Bewegung. Er brauchte jetzt eine Stärkung - um vor dem Frost geschützt zu sein. Und auch vor der Frau. Gentle verließ die Kreuzung, wanderte einige Blocks weit nach Osten und fand dort eine Bar, in der er einen doppelten Bourbon kippte. Dabei bedauerte er, nicht nach Alkohol süchtig zu sein, sondern nach dem anderen Geschlecht.
    Als er die Stimme des Fremden hörte, brummte Freddy leise und verließ seinen Platz neben dem Aufzug. Hinter der Tür aus kugelsicherem Glas und gußeisernen Verzierungen zeichnete sich eine schattenhafte Gestalt ab. Das Gesicht blieb dem Wächter verborgen, aber er glaubte trotzdem, jenen Mann nicht zu kennen - was ihm seltsam genug erschien. Schon seit fünf Jahren arbeitete er in diesem Gebäude, und daher war er mit den meisten Besuchern vertraut. Freddy stapfte durch den Flur und zog den Bauch ein, als er sich in einem der vielen Spiegel sah. Mit kalten, steifen Fingern schloß er auf, und nur eine Sekunde später wurde ihm sein Irrtum klar. Kalter Wind blies 89

    herein und trieb ihm die Tränen in die Augen, aber durch ihren Schleier sah er die Züge eines Mannes, den er gut kannte. Wie war es möglich gewesen, daß er seinen eigenen Bruder für einen Fremden hielt? Freddy hatte ihn gerade in Brooklyn anrufen wollen, als er das Klopfen an der Tür hörte.
    »Was machst du hier, Fly?« fragte er überrascht.
    Der Mann lächelte und offenbarte eine Zahnlücke. »Wollte nur mal vorbeischauen«, erwiderte er.
    »Hast du irgendwelche Probleme?«
    »Nein, alles in bester Ordnung«, sagte Fly. Sonderbares Unbehagen vibrierte in Freddy. Der Schatten auf den Stufen, der frostige Wind, die Tatsache, daß Fly vor ihm stand, obwohl er während der Woche nie in die Stadt kam... Irgend etwas ging nicht mit rechten Dingen zu.
    »Was willst du?« fragte der Wächter. »Eigentlich solltest du ganz woanders sein.«
    »Trotzdem bin ich hier.« Fly ging an seinem Bruder vorbei ins Foyer. »Ich dachte, du würdest dich freuen, mich wiederzusehen.«
    Freddy schloß die Tür und rang noch immer mit sich selbst.
    Die eigenen Gedanken entzogen sich ihm, so wie im Traum. Er konnte Flys Präsenz und seine Zweifel nicht lange genug miteinander verknüpfen, um festzustellen, was das eine mit dem anderen zu tun hatte.
    »Ich mache eine kleine Runde«, sagte Fly und ging zum Lift.
    »He, warte! Das ist völlig ausgeschlossen!«
    »Fürchtest du

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