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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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etwa, ich könnte das Gebäude in Brand stecken?«
    »Bleib stehen!« Freddy sah noch immer alles verschwommen, als er loslief, um Fly den Weg zu versperren. Seine Augen tränten, und erst als er verharrte, sah er den Besucher ganz deutlich.
    »Du... Sie sind nicht Fly!« stieß er hervor.
    Er wandte sich der Ecke neben dem Lift zu - dort lag sein 90

    Revolver -, doch der Fremde war schneller. Er streckte die Hand aus, und eine Berührung genügte, um Freddy quer durchs Foyer zu schleudern. Der Wächter schrie, obgleich er wußte, daß er nicht mit Hilfe rechnen durfte - niemand war in der Nähe. Ich bin so gut wie tot, fuhr es ihm durch den Sinn.
    Gentle stand auf der anderen Straßenseite - er war erst vor einer knappen Minute von der Bar zu seinem Beobachtungsposten zurückgekehrt - und duckte sich im Wind, der über die Park Avenue wehte. Er bemerkte durch die Glasscheibe den Portier auf dem Boden des Flurs und begriff sofort, daß etwas nicht stimmte. Von einem Augenblick zum anderen stürmte er über das breite Asphaltband, wich hupenden Wagen aus und erreichte die Tür rechtzeitig genug, um zu sehen, wie ein Mann im Lift verschwand. Mit der Faust hämmerte er ans kugelsichere Glas, während der Pförtner mühsam aufstand.
    »Lassen Sie mich rein!« rief Gentle. »Um Himmels willen, öffnen Sie die Tür!«
    Im ersten Stock hörte Judith laute Stimmen und vermutete, daß sich Eheleute in einer der anderen Wohnungen stritten. Ihr lag nichts daran, Zeugin eines solchen Zwists zu werden, und deshalb trat sie zur Stereoanlage, um die Lautstärke zu erhöhen. Doch sie kam nicht dazu - jemand klopfte an die Tür.
    »Wer ist da?« rief Jude.
    Die Antwort bestand aus neuerlichem Klopfen. Judith verringerte die Lautstärke, anstatt sie zu erhöhen, bevor sie zur Tür ging. Der Riegel war vorgeschoben, die Kette eingehängt, wie es sich gehörte. Doch der Wein machte sie leichtsinnig. Jude löste die Kette und wollte die Tür öffnen, als sie zu zweifeln begann - zu spät. Der Mann im Korridor zögerte nicht, die gute Gelegenheit zu nutzen: Er stieß die Tür auf und jagte mit der Geschwindigkeit des Fahrzeugs herein, das ihn achtundvierzig Stunden zuvor tödlich verletzt hatte. Jetzt war das Gesicht nicht mehr blutverschmiert, es zeigten sich nur noch kleine 91

    Wundmale darin. Darüber hinaus bewegte er sich nicht wie jemand, der auf alte Wunden Rücksicht nehmen mußte. Er schien völlig geheilt zu sein. Nur die Augen erinnerten an jenen Abend: Dieser Mann kam, um Judith zu töten, doch sein Blick war ebenso schmerzerfüllt und schwermütig wie bei ihrer ersten Begegnung, als sie sich über die Straße hinweg angesehen hatten. Seine Hände erstickten ihren Schrei.
    »Bitte«, hauchte er.
    Wenn er von ihr erwartete, sich einfach mit dem Tod abzufinden, so hatte er Pech. Jude hob ihr Glas, um es ihm ins Gesicht zu stoßen, aber der Fremde schlug es ihr einfach aus den Fingern.
    »Judith!« sagte er.
    Sie versuchte nicht mehr, sich zu befreien, und daraufhin ließ der Unbekannte die Hand sinken.
    »Woher kennen Sie mich, zum Teufel?«
    »Ich möchte Ihnen kein Leid zufügen«, behauptete der Mann. Seine Stimme klang sanft und weich; der Atem roch nach Orangen. Ein perverses Verlangen erwachte in Jude, und sie verbannte es sofort aus ihrem Empfinden. Der Fremde hatte versucht, sie umzubringen, und er wollte nur, daß sie keinen Widerstand mehr leistete.
    »Rühren Sie mich nicht an.«
    »Ich muß Ihnen etwas sagen...«
    Das Ende des begonnenen Satzes blieb offen. Judith sah eine Bewegung hinter ihm, und der Mann bemerkte ihren Blick, drehte den Kopf - und empfing einen Hieb. Er taumelte, ohne vollkommen das Gleichgewicht zu verlieren, drehte sich mit der Eleganz eines Tänzers und versetzte dem anderen Mann einen wuchtigen Schlag. Jude erkannte nicht etwa Freddy, sondern... Gentle! Er prallte so heftig an die Wand, daß einige Bücher aus dem Regal fielen. Der Killer wollte die Hände um seinen Hals schließen, aber Gentles Faust traf ihn in der Magengrube - oder vielleicht auch an einer anderen, noch 92

    empfindlicheren Stelle. Der Fremde ächzte, ließ die Hände sinken und krümmte sich andeutungsweise zusammen, wobei sein Blick zum erstenmal dem Gesicht des anderen Mannes galt.
    Abrupt wich der Schmerz aus den Zügen des Unbekannten, und etwas anderes wurde dort kenntlich: zum Teil Schrecken, zum Teil Ehrfurcht, und auch noch ein anderes Gefühl, für das kein geeignetes Wort existierte. Die emotionale Metamorphose

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