Imagica
Godolphin.
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Wer es wagte, das Vertraute zu verlassen, setzte sich erheblichen Gefahren aus, sowohl hier als auch dort. Seit mehr als einem Jahrhundert herrschte der Autokrat von Yzordderrex über die zusammengeführten Domänen, und wenn Godolphin zurückkehrte, berichtete er jedesmal über neue Anzeichen der Unruhe. Vom Rand der Ersten Domäne bis hin zu Patashoqua und den Satellitenstädten in der Vierten: Überall erklangen Stimmen, die zu Widerstand und Kampf aufriefen.
Bisher war man sich noch nicht darüber einig, wie die Tyrannei des Autokraten überwunden werden sollte. Es kam nur hier und dort zu lokalen Aufständen, die Drahtzieher und Anstifter wurden immer gefunden und hingerichtet.
Manchmal ergriff der Autokrat sogar noch drastischere Unterdrückungsmaßnahmen. Ganze Völker waren im Namen des Yzordderrexianischen Regimes ausgelöscht worden.
Stämme und kleine Nationen verloren nicht nur ihre Götter, sondern auch die Heimat und das Recht, sich fortzupflanzen.
Andere fielen Pogromen zum Opfer, die der Autokrat höchstpersönlich leitete.
Doch keiner jener Schrecken hielt Godolphin davon ab, in den zusammengeführten Domänen umherzureisen. Vielleicht nahm er die Ereignisse dieses Abends zum Anlaß, vorsichtig zu sein - wenigstens so lange, bis die Tabula Rasa keinen Verdacht mehr schöpfte.
Es blieb Dowd nichts anderes übrig, als das Godolphin-Anwesen aufzusuchen und in jenem Prachtbau zu warten, der Oscar als Ausgangspunkt seiner Reisen diente. Er kam sich wie ein treuer Hund vor, der das abwesende Herrchen herbeisehnte.
Nun, nicht nur Godolphin mußte sich bald eine Ausrede einfallen lassen - Dowd sah sich mit der gleichen Notwendigkeit konfrontiert. Er hatte es für eine gute Idee gehalten, Chant umzubringen (ganz abgesehen davon, daß es ein angenehmer Zeitvertreib gewesen war, an einem Abend ohne interessante Theatervorstellung), doch jetzt begriff er die 83
eigene Naivität. Natürlich erregte der Mord eine Menge Aufsehen. England liebte so etwas. Eine gewisse Portion Pech gesellte sich hinzu: Mr. Burke von der Somme und diverse politische Skandale sorgten dafür, daß Chant nach seinem Tod Berühmtheit erlangte. Woraus folgerte: Dowd mußte auf Godolphins Zorn gefaßt sein. Aber vielleicht vergaß Oscar seinen Ärger, wenn er vom Mißtrauen der Gruppe erfuhr.
Godolphin brauchte Dowd, um den Argwohn der Tabula Rasa auszuräumen. Und ein Mann, der seinen Hund benötigte, achtete darauf, ihn nicht zu fest zu treten.
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KAPITEL 7
l
Gentle rief Klein vom Flughafen aus an, nur wenige Minuten vor dem Start der Maschine. Er präsentierte Chester eine unvollständige Version der Wahrheit, in der Estabrooks Mordplan fehlte: Angeblich war Judith krank und brauchte Hilfe. Die erwartete Schimpfkanonade blieb aus. Klein klang müde und enttäuscht, als er auf den ganz offensichtlich nur geringen Wert von Gentles Ehrenwort anspielte und daran erinnerte, wie sehr er sich bemüht hatte, dem brotlosen Künstler Arbeit zu besorgen. Vielleicht sei es besser, ihre Geschäftsbeziehung zu beenden. Zacharias bat um Nachsicht, und Klein erwiderte, in zwei Tagen werde er versuchen, Gentle im Atelier zu erreichen. Wenn dort niemand den Telefonhörer abnehmen würde, wäre die Vereinbarung nicht mehr gültig.
»Dein Schwanz bringt dich noch ins Grab«, sagte Chester zum Schluß und legte auf.
Der Flug bot Gentle Gelegenheit, sowohl über jene letzte Bemerkung als auch über das Gespräch mit Estabrook nachzudenken, das ihn nach wie vor bedrückte. Während der Unterredung hatte sich seine anfängliche Ungläubigkeit in Abscheu verwandelt, doch schließlich war in ihm die Bereitschaft gewachsen, auf das Anliegen des alten Mannes einzugehen. Estabrook hatte nicht zuviel versprochen und ihm mehr als genug Geld für die Reise gegeben, aber als Gentle nun an die Begegnung auf dem Hügel zurückdachte, erwachte Argwohn in ihm. Dabei ging es um zwei Faktoren in Estabrooks Geschichte. Erstens: der Killer Mr. Pie. Zweitens: jener Kontaktmann, der die Verbindung herstellte - Chant, über dessen Tod die Medien seit Tagen ausführlich Bericht erstatteten.
Der Brief des Toten war tatsächlich unverständlich: Manche 85
Stellen der schriftlichen Mitteilung schienen aus dem Manuskript eines Predigers zu stammen, während andere Passagen nach den Phantastereien eines Opiumsüchtigen klangen. Chant hatte gewußt, daß ihm jemand nach dem Leben trachtete, aber wenn er der Ansicht gewesen war, mit diesem Unsinn
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