Imagica
mich.«
»Nein«, widersprach sie. »Ich glaube dir jedes Wort.«
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»Tatsächlich?«
»Ja.«
Das Lachen wiederholte sich. »Warum?«
»Weil Gentle heute zurückgekehrt ist, Clem. Und weil bisher nur ich davon wußte.«
Zehn Minuten später war Clem sehr zufrieden. Er wußte nun: Selbst wenn er übergeschnappt war - er kannte eine Verrückte, die seinen Wahn mit ihm teilte. Judith war sich nicht im klaren darüber, wieviel sie ihm anvertrauen durfte, und deshalb erzählte sie nur wenig. Sie versprach ihm jedoch, sich mit Gentle in Verbindung zu setzen und von Taylors Erscheinen zu berichten. Clem ahnte, daß ihm Jude wichtige Informationen vorenthielt, und dieser Umstand gefiel ihm nicht sonderlich.
»Du weißt mehr, als du mir gegenüber zugibst, nicht wahr?«
»Ja«, gestand Jude ein. »Vielleicht bin ich bald in der Lage, dir alles zu erklären.«
»Ist Gentle in Gefahr?« hauchte Clem. »Bitte beantworte mir wenigstens diese Frage.«
»Wir alle sind in Gefahr«, sagte Judith. »Du. Ich. Gentle.
Taylor.«
»Taylor ist tot«, stellte Clem fest. »Er weilt nun im Licht.
Nichts kann ihm dort etwas anhaben.«
»Hoffentlich hast du recht«, entgegnete Judith ernst. »Wie dem auch sei: Wenn er noch einmal zu dir kommt...«
»Damit rechne ich.«
»Dann sag ihm, daß niemand sicher ist. Gentles Rückkehr bedeutet nicht, daß alle Probleme gelöst sind. Die Schwierigkeiten beginnen erst.«
»Tay meinte, es stehe etwas Erhabenes bevor. Dieses Wort benutzte er: erhaben.«
»Vielleicht hat er recht. Aber Fehler sind alles andere als ausgeschlossen. Und wenn etwas schiefgeht...«
Judith unterbrach sich, dachte ans In Ovo und die Ruinen 852
von Yzordderrex.
»Nun, erzähl mir auch den Rest, wenn du glaubst, dazu imstande zu sein«, sagte Clem. »Mir und Taylor. Uns beiden.« Er sah auf die Uhr. »Ich muß jetzt los. Es ist ziemlich spät.«
»Erwartet man dich bei einer Party?«
»Nein, ich arbeite für ein Obdachlosenasyl. Häufig sind wir abends und nachts unterwegs, um Kinder und Jugendliche von den Straßen zu holen. Die Stadt ist voll von ihnen.«
Judith begleitete ihn zur Tür. Bevor Clem nach draußen ging, fragte er:
»Erinnerst du dich an die heidnische Weihnachtsfeier?«
Sie lächelte. »Natürlich. Ein Bombenerfolg, nicht wahr?«
»Nachher, als alle fort waren, ließ sich Tay vollaufen. Er wußte, daß er die meisten Leute zum letztenmal gesehen hatte.
Mitten in der Nacht wurde ihm schlecht, und wir blieben auf, sprachen über... über dies und das. Er sagte mir, daß er in Gentle verliebt gewesen sei. Gentle, das Rätsel seines Lebens.
Er träumte sogar von ihm, von einem Gentle, der in fremden Zungen redete.«
»Das erwähnte er auch mir gegenüber«, warf Judith ein.
»Und dann fügte Tay ganz plötzlich hinzu, beim nächsten Weihnachtsfest sollte ich Christi Geburt gedenken und die Mitternachtsmesse besuchen. Ich erinnerte ihn daran, daß wir mehrmals über dieses Thema gesprochen hätten und dabei zu dem Schluß gelangt seien, daß solche Dinge kaum einen Sinn ergeben. Und weißt du, was er daraufhin erwiderte? Er meinte:
›Licht ist Licht, ganz gleich, wie man es nennt.‹ Und es sei leichter, sich in diesem Zusammenhang ein vertrautes Gesicht vorzustellen.« Clem lächelte. »Ich dachte, daß er von Jesus sprach. Aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«
Judith umarmte ihn, preßte ihre Lippen an seine heißen Wangen. Zwar vermutete sie, daß Clems Worte Wahrheit enthielten, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, diese Möglichkeit ganz offen einzuräumen. Aus gutem Grund. Sie 853
wußte: Jenes Antlitz, das sich Tay als zurückkehrende Sonne vorstellte, konnte auch Finsternis bringen.
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KAPITEL 44
l
Am vergangenen Abend war Gentle in ein muffig riechendes Bett gesunken, und das Kopfkissen erwies sich als feucht und kalt. Aber trotzdem schlief er tief und fest, so gut, als ruhte er in den Armen der Mutter Erde. Er erwachte fünfzehn Stunden später, an einem sonnigen Morgen im Juni, und neue Kraft erfüllte jede einzelne Körperzelle. Es gab weder Gas noch elektrischen Strom oder heißes Wasser, und deshalb mußte er kalt duschen, was die letzten Reste der Müdigkeit aus ihm vertrieb. Anschließend versuchte er, einen Eindruck vom aktuellen Zustand des Ateliers zu gewinnen. Irgendwann mußte eine alte Freundin oder ein ganz besonderer Dieb gekommen sein - Zacharias hatte zwei Fenster offen gelassen, es war also nicht schwer gewesen, sich Zugang zu
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