Imagica
verschaffen. Der Eindringling stahl Kleidung und einige persönliche Gegenstände. Allerdings... Inzwischen war soviel Zeit vergangen, daß Gentle nicht genau wußte, was fehlte. Einige Briefe und Postkarten vom Kaminsims; mehrere Fotos (es hatte ihm nie gefallen, fotografiert und auf diese Weise ›festgehalten‹ zu werden; die Gründe dafür stellten nun kein Rätsel mehr dar); außerdem Schmuckstücke, zum Beispiel eine goldene Kette, zwei Ringe und ein Kruzifix. Der Diebstahl störte ihn kaum. Er war nie sehr sentimental gewesen und neigte auch nicht dazu, Dinge zu horten. Objekte übten den gleichen Reiz auf ihn aus wie bunte Zeitschriften auf gewöhnliche Menschen: Einen Tag lang mochten sie interessant sein, doch am nächsten schenkte man ihnen keine Beachtung mehr.
Gentle fand andere, abscheulichere Hinweise auf seine lange Abwesenheit. Vor seiner Reise durch Imagica hatte er im Bad Kleidungsstücke zum Trocknen aufgehängt, und ihnen war in 855
der Zwischenzeit ein grüner Pelz gewachsen. Was den Kühlschrank betraf... Er enthielt etwas, das Zarzis im Larvenstadium ähnelte; Verwesungsgestank ging davon aus.
Um Ordnung zu schaffen, benötigte Gentle Elektrizität, und um sie zu bekommen, mußte er seinen Charme spielen lassen. Man hatte ihm schon des öfteren Gas, Telefon und Strom abgestellt, wenn ihm zwischen Fälschungsaufträgen und lukrativen Affären das Geld ausging. Bisher war es ihm immer gelungen, einen neuen Anschluß zu erwirken - darin bestand nun die erste Priorität.
Er zog seine saubersten Sachen an und ging nach unten, um sich der ehrwürdigen, aber recht kauzigen Mrs. Erskine zu präsentieren, die im Erdgeschoß-Apartment wohnte. Sie hatte ihn gestern hereingelassen und mit typischer Offenheit darauf hingewiesen, daß er aussähe, als hätte man ihn fast zu Tode gequält. Gentle erwiderte, daß er sich so fühlte. Mrs. Erskine fragte nicht nach den Gründen für seine lange Abwesenheit -
was ihn kaum überraschte, denn er hatte nie kontinuierlich im Atelier gearbeitet -, aber sie erkundigte sich danach, ob er diesmal für eine Weile bliebe. Er gab eine bestätigende Antwort, was seine Gesprächspartnerin mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis nahm: Im Sommer geschah es immer wieder, daß irgendwelche Leute durchdrehten, und seit dem Tod von Mr. Erskine fürchtete sie sich manchmal. Sie kochte Tee, während Gentle ihr Telefon benutzte, um wieder die Segnungen der Zivilisation genießen zu können. Es handelte sich um eine sehr mühsame Angelegenheit, denn heute gelang es ihm nicht mehr so leicht wie früher, die Sekretärinnen am anderen Ende der Leitung zu veranlassen, ihm zu helfen. Diesmal blieben gegenseitige Schmeicheleien aus, und man servierte ihm einen wenig schmackhaften Salat aus Förmlichkeit und Verachtung. In seinem Fall seien mehrere Rechnungen nicht bezahlt worden, hieß es, und die üblichen Dienstleistungen könnten erst nach entsprechenden 856
Überweisungen wiederhergestellt werden. Mrs. Erskine bot ihm Toast an; er aß mit großem Appetit und trank mehrere Tassen Tee. Nach dem Frühstück ging er in das Untergeschoß und hinterließ dort eine Nachricht für den Hausmeister; er wies auf seine Rückkehr hin und darauf, daß er warmes Wasser benötigte.
Anschließend suchte er das Atelier auf und verriegelte dort die Tür hinter sich. Ein Gespräch für diesen Tag genügte ihm.
Er zog die Vorhänge zu und entzündete zwei Kerzen. Sie qualmten zunächst, als die Dochte teilweise verbrannten, doch ihr Licht war angenehmer als der grelle Glanz des Tages. In dem matten Schein wühlte er sich langsam durch den Berg Post, der sich hinter der Tür angesammelt hatte. Er fand zahlreiche Rechnungen und registrierte in deren Begleittext eine charakteristische Metamorphose; der Tonfall verwandelte sich von kühler Höflichkeit in massives Drohen. Zwischen den Wurfsendungen und Werbeprospekten entdeckte er auch einige persönliche Briefe, und zwei von ihnen fesselten sein Interesse.
Beide stammten von Vanessa, und er erinnerte sich: Ihre Aufforderung, sich die verlogene Kehle durchzuschneiden, hatte bei Pater Athanasius an der Grenze zwischen Zweiter und Erster Domäne ein unheilvolles Echo gefunden. Jetzt schrieb sie, daß sie ihn vermißte, jeden Tag an ihn dachte. Im zweiten Schreiben drückte sie sich noch klarer aus: Sie wünschte sich, daß er in ihr Leben zurückkehrte, bat ihn darum, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Das Leben sei kurz, um an irgendeinem
Weitere Kostenlose Bücher