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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Ziel.
    Als Gentle zwanzig Meter weiter vorn die Ecke der Gamut Street sah, ging er langsamer, und Aufregung prickelte in ihm.
    Viele Erinnerungen erwarteten ihn dort, unter ihnen Reminiszenzen in bezug auf den Mystif. Aber nicht alle von ihnen konnten angenehmer Natur und willkommen sein. Er mußte sich ihnen vorsichtig öffnen, verglich seine Situation mit der eines Mannes, der einen empfindlichen Magen hatte und zu einem Bankett eingeladen war. Das Zauberwort hieß Mäßigung. Sobald er die ersten Anzeichen von Übersättigung spürte, mußte er ins Atelier zurückkehren, um dort alles zu verdauen, um neue Kraft zu schöpfen und sich auf den nächsten Gang vorzubereiten. Es kostete Zeit, sich auf diese Weise mit der Vergangenheit vertraut zu machen, und der Faktor Zeit war sehr wichtig. Aber das galt auch für seine geistige Gesundheit. Was nützte Gentle als Rekonziliant, wenn er an seinen Erinnerungen erstickte?
    Mit klopfendem Herzen ging er um die Ecke und sah die heilige Straße vor sich. Vielleicht war er in all den Jahren des Vergessens mehrmals an diesem Ort gewesen, ohne ihn zu erkennen, ohne zu ahnen, was er bedeutete, aber aus irgendeinem Grund zweifelte Gentle daran. Er hielt es für viel wahrscheinlicher, daß sich die Gamut Street nun zum erstenmal seit zwei Jahrhunderten seinen Blicken darbot. Sie hatte sich kaum verändert. Spezielle Magie bewahrte sie seit Generationen vor den Stadtplanern und jenen Horden, die Veränderung-um-jeden-Preis brachten. Die Bäume zu beiden Seiten der Straße wirkten ungepflegt, aber es mangelte ihnen nicht an Vitalität - hier waren sie vor den Abgasen von Holborn und Gray's Inn Road geschützt, und der in ihnen aufsteigende Saft verströmte das Aroma des Lebens. Bildete es sich 860

    Gentle nur ein, oder gedieh der Baum vor dem Haus Nummer achtundzwanzig prächtiger als alle anderen? Möglicherweise zapften seine Wurzeln jene alte Thaumaturgie an, die im Heim des Maestros verweilte.
    Zacharias näherte sich Baum und Treppe und fühlte dabei, wie sich Erinnerungen in ihm regten. Er hörte, wie die Kinder hinter ihm sangen, jenes Lied, das ihn verhöhnt und das er vernommen hatte, als er vom Autokraten seine wahre Identität erfuhr. Sartori, flüsterte es in ihm, und dann ertönte noch einmal das Spottlied, gesungen von piepsenden Stimmen, die Melodie banal, der Text unsinnig. Er entsann sich daran, wie und wann er jene Weise zum erstenmal gehört hatte: Über dieses Pflaster ging er, während auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig die Prozession der Kinder marschierte; es schmeichelte ihm genug Ruhm gesammelt zu haben, um seinen Namen auf die Lippen von Mädchen und Jungen zu bringen, die nie lesen oder schreiben lernen, wahrscheinlich nicht einmal die Pubertät erreichen würden. Ganz London kannte ihn, und er fand Gefallen daran. Roxborough meinte, daß man sogar am königlichen Hof von ihm spreche, und vermutlich konnte er bald mit einer Einladung rechnen. Andere Berühmtheiten legten Wert auf seine Gesellschaft.
    Zum Glück gab es auch Leute, die Distanz wahrten, und eine solche Person hatte im Haus auf der anderen Straßenseite gewohnt - eine Nymphe namens Allegra, die mit halb aufgeschnürtem Mieder vor der Frisierkommode saß und sich ganz bewußt vom Maestro beobachten und bewundern ließ.
    Gentle entsann sich an ihren kleinen Hund. Manchmal rief sie ihn abends zu sich, und dann machte er es sich auf ihrem Schoß bequem. Einmal war Zacharias der jungen Frau draußen begegnet, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der er jetzt stand. Sie hatte damals ihre Mutter begleitet, und der Maestro beneidete plötzlich den Hund, der dem Tor zwischen ihren Beinen so nahe sein durfte. Hatte sie ihr ganzes Leben als 861

    Jungfrau verbracht? Oder war sie alt und fett geworden, während sie an den Maestro dachte, ihren glühendsten Verehrer?
    Gentle sah nun zu dem betreffenden Fenster auf - dort brannte kein Licht. Das Haus war ebenso dunkel wie die meisten anderen. Er seufzte, blickte zu Nummer achtundzwanzig, überquerte die Straße und näherte sich der Tür. Natürlich verschlossen. Aber eine Fensterscheibe war irgendwann zerbrochen, ohne daß man sie ersetzt hatte.
    Zacharias griff durch die Öffnung, zog den Riegel beiseite, öffnete das Fenster und kletterte ins Zimmer. Langsam, ermahnte er sich. Nicht so hastig. Behalt alles unter Kontrolle.
    Finsternis verbarg Einzelheiten vor ihm, doch Gentle hatte sich mit Kerzen und Streichhölzern vorbereitet. Zuerst

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