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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Groll festzuhalten.
    Diese Zeilen gaben ihm neuen Auftrieb, und die inneren Schatten wichen noch etwas weiter zurück, als er einen Brief von Klein sah, mit roter Tinte auf rosarotes Papier geschrieben.
    Gentle glaubte, Chesters ironisch klingende Stimme zu hören, als er las:
    Lieber Bastard Boy, begann Klein, wessen Herz brechen Sie gerade, und wo? Ganze Heerscharen einsamer Frauen weinen 857

    in meinem Schoß und flehen mich an, Ihnen Ihre Schuld zu vergeben, Sie wieder in unsere Familie aufzunehmen. Zu ihnen gehört auch die reizende Vanessa. Um Himmels willen, kehren Sie heim und bewahren Sie mich davor, die Trauernde zu verführen. Ich schwimme hier in fremden Tränen, die um Sie vergossen werden.
    Vanessa war also verzweifelt genug, sich an Klein zu wenden - erstaunlich. Sie hatte nur einmal mit ihm gesprochen, bei einer Party, und anschließend verriet sie Gentle, daß sie Chester verabscheute. Zacharias behielt die drei Briefe, obwohl er nicht beabsichtigte, auf Vanessas Wünsche einzugehen. Ihm ging es nur um ein Wiedersehen, und das betraf ein ganz bestimmtes Haus in Clerkenwell. Die Vorstellung, jenen Ort am Tag aufzusuchen, bereitete ihm Unbehagen. Nein, tagsüber waren die Straßen zu hell; tagsüber herrschte zuviel Verkehr.
    Er beschloß, bis zum Abend zu warten: Die Dunkelheit der Nacht ermöglichte es ihm, unsichtbar zu bleiben. Er hielt ein Streichholz an den Rest der Post und beobachtete, wie sie verbrannte. Als nur noch Asche übrig war, ging er zu Bett: Der Schlaf am Nachmittag sollte ihn auf den Abend vorbereiten.
    2
    Gentle zog die Vorhänge beiseite, als erste Sterne am dunkel-blauen, allmählich schwarz werdenden Himmel erschienen.
    Eine stille Straße erstreckte sich draußen. Es mangelte ihm an Bargeld, und das bedeutete: Er konnte kein Taxi nehmen und mußte damit rechnen, auf dem Weg nach Clerkenwell vielen Leuten zu begegnen. An einem solchen Abend herrschte auf der Egdware Road sicher dichter Verkehr, und er schauderte unwillkürlich, als er sich das Gedränge in der U-Bahn vorstellte. Um sein Ziel zu erreichen, ohne daß ihm jemand Aufmerksamkeit schenkte, brauchte er möglichst unauffällige Kleidung. Es dauerte eine Weile, bis er in seiner zusammengeschrumpften Garderobe Sachen fand, die ihm ein 858

    gewisses Maß an Unsichtbarkeit verhießen. In der neuen Aufmachung begab er sich nach Marble Arch und vertraute sich dort der Untergrundbahn an. Es waren nur fünf Stationen bis nach Chancery Lane am Rand von Clerkenwell, aber schon nach dem zweiten Halt stieg er aus, keuchte und schwitzte wie jemand, der einen klaustrophobischen Anfall erlitt. Er verfluchte diese neue Schwäche, während er auf einer Bank Platz nahm und eine halbe Stunde lang die Züge beobachtete -
    ohne die Kraft zu finden, noch einmal einzusteigen. Sein Problem erschien ihm absurd. Monatelang war er in den Domänen von Imagica unterwegs gewesen und hatte dabei mit zahlreichen Gefahren fertig werden müssen. Jetzt brachte er es nicht über sich, einige Kilometer mit der U-Bahn zurückzulegen? Er wartete, bis das Zittern in seinem Innern nachließ und ein nicht ganz so voller Zug kam, trat in einen Waggon und hielt sich in unmittelbarer Nähe der Tür auf. Stumm rang er mit der Panik und unterdrückte sie bis zum Ende der glücklicherweise recht kurzen Reise.
    Als er die Station von Chancery Lane verließ, war der Himmel ganz dunkel geworden. Einige Minuten lang stand Gentle im Bereich von High Holborn, neigte den Kopf weit nach hinten und genoß den Anblick des Firmaments. Als er glaubte, die Krise überwunden zu haben, als es in seinen Knien nicht mehr vibrierte, setzte er sich wieder in Bewegung und folgte dem Verlauf der Gray's Inn Road in Richtung Gamut Street. Die meisten Häuser an den Hauptstraßen wurden inzwischen kommerziell genutzt, aber hinter den hohen Wällen aus Bürogebäuden gab es ein Labyrinth aus Nebenstraßen und kleinen Plätzen, das von den Maklern verschont geblieben war.
    In jenen Gassen schien es auch tagsüber dunkel zu sein, und des Nachts verdichteten sich dort die Schatten zu noch schwärzerer Finsternis. Wegweiser fehlten, und es brannte kaum eine Straßenlampe. Gentle brauchte nicht die Hilfe von Hinweisschildern und Licht. Seine Füße kannten den Weg, 859

    hatten ihn unzählige Male beschritten. Er entsann sich an Shiverick Square, der kleine Park glich jetzt einem wuchernden Urwald, an Flaxen Street und Almoth. Und in der Mitte des Viertels, umhüllt von Anonymität - das

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