Imagica
Stadt in Flammen.« Oscar seufzte. »Ein niederschmetternder Anblick. Soviel sinnlose Zerstörung... Die Rache der Proleten. Oh, ich weiß, ich sollte mich über den Sieg der Demokratie freuen, aber was bleibt nach ihrem Triumph übrig? Mein geliebtes Yzordderrex - nur noch Ruinen. Ich beobachtete die Stadt und dachte: Oscar, dies ist das Ende einer Epoche. Von jetzt an wird alles anders sein. Finsterer.« Er sah von seiner Tasse Tee auf. »Hat Hebbert überlebt?«
»Er wollte die Stadt zusammen mit Hoi-Polloi verlassen, und ich schätze, das ist ihm auch gelungen. Zuvor hat er den Keller geleert.«
»Nein, das war ich. Und ich bin froh, daß ich alles mitgenommen habe.«
Er blickte zum Fenster. Auf dem Sims standen unter anderem einige kleine Statuen - wahrscheinlich Talismane, die aus Hebberts Sammlung stammten. Einige wandten die starren Mienen dem Zimmer zu; andere sahen nach draußen. Alle wirkten ausgesprochen aggressiv: Die bemalten Mienen bildeten zornige Fratzen.
»Aber du bist mein bester Schutz«, sagte Godolphin.
»Solange wir beide zusammen sind, hier in diesem Haus, gibt es vielleicht noch eine Überlebenschance für uns.« Er griff nach Judes Hand. »Als ich deine Nachricht las, als ich erfuhr, daß du noch am Leben bist... Da schöpfte ich wieder etwas Hoffnung. Doch dann konnte ich dich nicht erreichen und rechnete mit dem Schlimmsten.«
Sie musterte ihn und bemerkte in seinem Gesicht etwas, das 928
sie bisher übersehen hatte. Ein visuelles Echo von Charlie bot sich ihr dort dar, von einem Charlie, der in seinem Krankenhauszimmer am Fenster saß und über Leichen sprach, die man draußen, im strömenden Regen, aus dem schlammigen Boden der Heide grub.
»Warum bist du nicht zu mir gekommen?« fragte Judith.
»Ich konnte das Haus nicht verlassen.«
»Sind deine Verletzungen so ernster Natur?«
»Es sind nicht irgendwelche Wunden, die mich an diesen Ort fesseln«, erwiderte Oscar, hob ihre Hand und drückte sie an seine Brust. »Ich fürchte das, was dort draußen lauert.«
»Glaubst du, die Tabula Rasa hat es auf dich abgesehen?«
»Himmel, nein. Das heißt, ich weiß nicht, ob sie mir nach dem Leben trachtet. Aber sie ist die geringste meiner Sorgen.
Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, den einen oder anderen zu warnen. Natürlich anonym. Nicht Shales, McGann oder gar Bloxham, der von Anfang an ein Narr und Idiot gewesen ist. Sollen sie ruhig in der Hölle schmoren. Aber Lionel... Er war immer freundlich, selbst im nüchternen Zustand. Und die Frauen. Ich möchte mein Gewissen nicht mit ihrem Tod belasten.«
»Vor was versteckst du dich?«
»Um ganz ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht genau. Ich sehe Bilder in der Schüssel, aber ihr Sinn bleibt zum Teil schleierhaft.«
Die Orakelschüssel mit den prophezeienden Steinen hatte Judith ganz vergessen. Offenbar hatten sie inzwischen enorme Bedeutung für Oscar gewonnen.
»Etwas kam von Imagica hierher, Schatz«, sagte er. »Da bin ich ganz sicher. Ich habe gesehen, wie es dir folgte, wie es versuchte, dich zu ersticken...«
Er schien einmal mehr den Tränen nahe zu sein, und Judith beruhigte ihn, indem sie auf seine Hand klopfte, als sei er ein dummer alter Mann.
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»Mir wird nichts zustoßen«, versicherte sie. »Während der letzten Tage habe ich zuviel überlebt.«
»Eine solche Macht hast du noch nie zuvor gesehen«, warnte Godolphin. »In der Fünften gibt es nichts Vergleichbares.«
»Wenn das Etwas aus Imagica kam, so steckt der Autokrat dahinter.«
»Das klingt sehr überzeugt.«
»Weil ich weiß, wozu er fähig ist.«
»Du hast mit ›Sünder‹ Hebbert gesprochen«, sagte Oscar.
»Er hat viele Theorien, Liebling. Aber sie taugen nichts.«
Seine alles andere als taktvolle, obwohl sehr subtile Herablassung verärgerte Judith, und sie zog die Hand zurück.
»Meine Quelle ist weitaus zuverlässiger als Hebbert«, stellte sie fest.
»Ach?« Godolphin begriff nun, daß er sie beleidigt hatte und bemühte sich deshalb, auf sie einzugehen. »Wen meinst du?«
»Quaisoir.«
»Quaisoir? Lieber Himmel, wie ist es dir gelungen, einen Kontakt mit ihr herzustellen?«
Oscars Überraschung schien echt zu sein, verdrängte sogar seine Sorgen.
»Weißt du nichts davon?« erwiderte Judith. »Hat dir Dowd nie von damals berichtet?«
Argwohn verdrängte die Verblüffung aus Godolphins Zügen.
»Dowd hat mehreren Generationen von Godolphins gedient«, erläuterte Jude. »Das muß dir doch bekannt sein, oder? Seine
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