Imagica
Beine um die Hüften geschlungen, und er war tief in ihr. Eine normale, beliebte Stellung. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen, aber er weilte hier bei ihr, und nicht an einem Ort des kollektiven Verzehrens; dort befanden sich nur die Gedanken, nicht der 922
Körper. Judith wollte zu der Vision zurückkehren, wußte jedoch nicht, wie sie das anstellen sollte. Ihre Beine übten mehr Druck an seinen Hüften aus, und daraufhin bewegte er sich, begann zu stoßen. Sein Atem strich ihr über die Wangen, und sie paßte sich dem Rhythmus an, merkte dabei, wie die Wirklichkeit einmal mehr fortrückte und erneut dem Visionären wich. Das Verschlingen ging nun schneller. Ihr Selbst umhüllte Gentles Kopf, und sein Ich stülpte sich um ihren Schädel. Verschiedene Schichten entstanden, schoben sich ineinander, bis kleine emotionale Krusten größere verbargen - ein Wunder, das nur dort möglich wurde, wo Substanz in den Geist fiel, der sie erschuf.
Eine solche Ekstase konnte nicht ewig dauern. Schon bald verlor sie ihre Reinheit, als sich weitere Geräusche des Externen einen Weg in den Kosmos der Wonne bahnten. Judith spürte, daß auch Gentle seinen Platz im Delirium verlor. Wenn sie lernten, sich wieder zu lieben... Vielleicht gelang es ihnen dann, länger an einem derartigen Stadium festzuhalten?
Vielleicht konnten sie ganze Tage und Nächte in der rätselhaften, herrlichen Sphäre zwischen zwei Atemzügen verbringen? Doch bis dahin mußte sie sich mit dem gerade Erlebten zufriedengeben. Widerstrebend ließ sie zu, daß sich die tropische Nacht, in der sie sich verschlungen hatten, in gewöhnlichere Dunkelheit verwandelte. Sie wußte nicht genau, wo ihr Bewußtsein begann und endete, als sie nach wenigen Sekunden einschlief.
Als Judith erwachte, lag sie allein im Bett. Diese Erkenntnis brachte Enttäuschung, aber sie fühlte sich auch vital und leicht.
Sie hatten etwas Wundervolles geteilt, und auch jetzt blieb es ein Rausch ohne Kater. Jude setzte sich auf und streckte die Hand nach dem Laken aus, um sich damit zu bedecken. Doch bevor sie es ertastete, hörte sie seine Stimme in der Finsternis.
Er stand am Fenster, einen Teil des Vorhangs zwischen Mittel-und Zeigefinger. Durch den Spalt spähte er nach draußen in die 923
Nacht.
»Es wird Zeit, daß ich mit meinem Werk beginne«, sagte er leise.
»Es ist noch früh«, erwiderte Judith.
»Bald geht die Sonne auf«, fuhr der Mann fort. »Und ich muß mich beeilen.«
Er ließ den Vorhang los, drehte sich um und trat zum Bett.
Sie umarmte ihn und sehnte sich danach, länger mit ihm zusammen zu sein, die wundervolle Ruhe zu genießen. Aber ihr Instinkt erwies sich als vernünftiger; er erinnerte daran, daß Arbeit auf sie beide wartete.
»Wenn du gestattest...«, sagte er. »Ich möchte lieber hier wohnen und nicht im Atelier. Oder hast du etwas dagegen?«
»Ganz und gar nicht«, entgegnete Judith. »Es würde mich freuen.«
»Vermutlich komme und gehe ich zu den unmöglichsten Zeiten.«
»Das macht mir nichts aus, wenn du gelegentlich den Weg ins Bett findest...«
»Ich bin bei dir.« Seine Hand glitt von ihrem Hals zum Bauch, rieb sanft. »Von jetzt an bin ich Tag und Nacht bei dir.«
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KAPITEL 46
l
Zwar entsann sich Judith an alle Einzelheiten der vergangenen Nacht, aber sie erinnerte sich nicht daran, daß Gentle oder sie selbst den Telefonhörer von der Gabel genommen hatte. Das wurde ihr erst klar, als sie um halb zehn am nächsten Morgen beschloß, Clem anzurufen. Sie legte den Hörer auf, und fast sofort klingelte es. Am anderen Ende der Leitung erklang eine vertraute Stimme - Jude hatte kaum mehr gehofft, sie noch einmal zu hören. Oscar. Zuerst hielt sie ihn für atemlos, doch nach einigen hastig hervorgestoßenen Worten begriff sie, daß er immer wieder ein Schluchzen unterdrückte.
»Wo bist du gewesen, Liebling? Als ich deine Nachricht fand... Ich habe immer wieder angerufen und dachte schon, es hätte dich erwischt.«
»Der Telefonhörer lag neben dem Apparat, das ist alles. Wo bist du?«
»Zu Hause. Bitte komm zu mir. Bitte! Ich brauche dich hier.« Immer mehr Panik erklang in Godolphins Stimme, als befürchtete er, Judith könne ablehnen. »Es bleibt uns nicht viel Zeit.«
»Natürlich komme ich«, erwiderte sie.
»Jetzt«, drängte er. »Du mußt jetzt sofort kommen.«
Sie versprach, innerhalb einer Stunde bei ihm zu sein, und er betonte, daß er voller Ungeduld auf sie warte. Judith verschob das Telefongespräch mit Clem auf
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