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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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später, trug etwas Make-up auf und verließ die Wohnung. Zwar war es noch recht früh, aber die Sonne strahlte bereits heiß vom Himmel. Während der Fahrt erinnerte sie sich an den Monolog des jungen Mannes, der sie und Gentle nach London gebracht hatte. Sintflutartige Regenfälle und Hitzewellen den ganzen Sommer über - so 925

    lautete die mit Genuß formulierte Prophezeiung. Damals hielt Judith den Enthusiasmus des Namenlosen für grotesk - ein beschränktes Ich, das Gefallen fand an der Beschreibung von apokalyptischen Dingen. Aber jetzt, nach der außergewöhnlichen Nacht mit Gentle, überlegte Jude, auf welche Weise diese hellen Straßen das Wunder der dunklen Stunden teilen mochten. Sie stellte sich vor, wie allmächtiger Regen Fahrzeuge fortspülte, wie anschließend die Hitze der Sonne Asphalt und alles andere in eine sirupartige Masse verwandelte. Sie dachte daran, wie eine Stadt, die aus öffentlichen Plätzen und privaten Bereichen bestand, aus reichen Vierteln und der Gosse, zu einem Kontinuum wurde.
    Hatte Gentle so etwas gemeint, als er sie aufforderte, seine Vision zu teilen? Wenn das der Fall sein sollte, so war sie nun bereit.
    Auf der Regent's Park Road herrschte weniger Verkehr als sonst. Es spielten keine Kinder auf dem Bürgersteig, und eine seltsame Ruhe herrschte. Woanders säumten bunte Blechschlangen den Rand der Straße, aber schon Hunderte von Metern vor Godolphins Haus parkte kein Wagen mehr - der Rest der Welt schien das Gebäude zu scheuen. Judith brauchte nicht zu klingeln oder anzuklopfen. Sie hatte gerade erst die Treppe erreicht, als sich die Tür öffnete und ein überaus besorgt wirkender Oscar sie hereinwinkte. Mit trockenen Augen nahm er sie in Empfang, schloß die Tür sofort wieder und verriegelte sie, aber als er Jude umarmte, strömten ihm jähe Tränen über die Wangen. Er schluchzte so laut, daß seine ganze massige Gestalt erbebte. Immer wieder beteuerte er, wie sehr er Judith liebe, wie sehr er sie vermißt habe und brauche, jetzt noch mehr als jemals zuvor. Sie versuchte, ihn zu beruhigen. Nach einer Weile gelang es ihm, sich unter Kontrolle zu bringen, und er führte sie zur Küche. Überall im Haus brannte Licht, aber nach dem hellen Sonnenschein wirkte der Glanz trüber als sonst - und er schmeichelte Oscar nicht.
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    Blässe zeigte sich dort in seinem Gesicht, wo es keine blauen Flecken aufwies, und an seinen Händen beobachtete Jude diverse Hautabschürfungen. Sie vermutete, daß sich unter der zerknitterten Kleidung weitere Wunden verbargen. Er kochte Earl-Grey-Tee und schnitt eine Grimasse, wenn er sich zu abrupt bewegte. Ein Gespräch begann, und zuerst ging es dabei um die Ereignisse unmittelbar nach ihrer Trennung in der Zuflucht.
    »Ich war sicher, daß dir Dowd sofort nach der Ankunft in Yzordderrex die Kehle durchschneiden würde...«
    »Er ließ mich in Ruhe«, sagte Judith. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Nun, das stimmt nicht ganz. Später wollte er mich umbringen. Aber zuerst war er zu schwer verletzt.« Sie zögerte erneut. »Auch du bist verwundet.«
    »Mir ging's ziemlich schlecht«, sagte Oscar. »Ich wollte dir folgen, konnte mich jedoch kaum auf den Beinen halten. Ich kehrte hierher zurück, bewaffnete mich und leckte eine Zeitlang meine Wunden, bevor ich die Zweite aufsuchte.
    Leider zu spät - du warst fort.«
    »Du bist mir also gefolgt?«
    »Natürlich. Hast du etwa geglaubt, ich hätte dich einfach so deinem Schicksal überlassen?«
    Er stellte eine große Tasse vor ihr ab und bot ihr auch Honig an. Für gewöhnlich verzichtete Judith darauf, ihren Tee zu süßen, aber sie hatte noch nicht gefrühstückt, und deshalb genehmigte sie sich mehrere Löffel Honig.
    »Als ich ›Sünder‹ Hebberts Haus erreichte, stand es bereits leer«, fuhr Oscar fort. »In der Stadt ging es drunter und drüber.
    Ich wußte nicht, wo ich nach dir suchen sollte. Ein wahrer Alptraum.«
    »Weißt du, daß der Autokrat entthront wurde?«
    »Nein. Aber das überrascht mich nicht. Zu Beginn eines jeden Jahres sagte Hebbert immer: ›In diesem Jahr geht seine Macht zu Ende.‹ Übrigens: Was ist aus Dowd geworden?«
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    »Er starb«, antwortete Judith und lächelte zufrieden.
    »Bist du sicher? Wesen wie er lassen sich nur schwer umbringen. Ich spreche aus bitterer Erfahrung.«
    »Bitte fahr fort...«
    »Ja. Äh, was wollte ich dir gerade erzählen?«
    »Du bist uns gefolgt und hast ›Sünder‹ Hebberts Haus leer vorgefunden.«
    »Und die halbe

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