Imagica
verschlang ihn. Judith wagte sich einige Schritte näher an das Loch heran, doch die beiden Gegner waren in eine ferne Ecke zurückgewichen, was ihr die Möglichkeit nahm, den Kampf zu beobachten.
Aber sie hörte ihn, vernahm fauchenden, zischenden Atem und dumpfes Pochen, wenn ein Körper gegen festen Stein gestoßen wurde. Die Wände erzitterten so heftig, daß im Korridor hinter Jude Bücher aus den Regalen fielen: Die dicken, schweren Bände brachen auf dem Boden auseinander; leichtere Werke und die Blätter von Manuskripten flatterten erschrockenen Vögeln gleich davon.
Und dann war es plötzlich vorbei - von einer Sekunde zur 987
anderen herrschte Stille in der finsteren Kammer. Judith lauschte, hörte schließlich leises Stöhnen und bemerkte eine Hand, die nach dem Rand des Loches tastete.
Dowd kam langsam zum Vorschein, die andere Hand ans Gesicht gepreßt. Die Splitter des Zapfens verliehen ihm eine gewisse Macht, aber sie steckten in schwachem Fleisch, und diesen Umstand hatte Celestine mit der Erbarmungslosigkeit einer Kriegerin ausgenutzt. Das halbe Gesicht fehlte dem Mann, und sein Leib befand sich in einem schlimmeren Zustand als Oscars Leiche - der Bauch war aufgerissen, die Gliedmaßen grotesk verrenkt.
Er taumelte durchs Loch, fiel und versuchte nicht, wieder aufzustehen. Wie ein Blinder kroch er durch den Schutt und vertraute dabei seinen Händen, um einen einigermaßen hindernisfreien Weg zu finden. Ab und zu schluchzte und wimmerte er, doch seine Kraft ließ nun rasch nach, und es dauerte nicht lange, bis er verstummte, bis er zwischen den Ziegeln im Schmutz liegenblieb, mit dem Gesicht nach unten und von uralten Büchern umgeben.
Judith beobachtete ihn eine Zeitlang, bevor sie sich dem dunklen Raum zuwandte. Als sie nur noch zwei Schritte von Dowd trennten, sah sie eine Bewegung und erstarrte. Es steckte noch immer Leben in ihm, wenn auch nicht sein eigenes. Die Käfer krabbelten aus dem offenen Mund, wie Flöhe, die den erkaltenden Leib des Wirts verließen. Auch aus den Nasenlöchern und Ohren schoben sie sich hervor. Vermutlich waren sie harmlos, da Dowd ihnen nicht mehr befehlen konnte, jemanden anzugreifen und zu verschlingen, aber Jude wollte kein Risiko eingehen. Sie machte einen großen Bogen um die kleinen Geschöpfe; ein Umweg führte sie zu der Kammer, in der Celestine zwei Jahrhunderte lang gefangen gewesen war.
Der Kampf hatte Staub aufgewirbelt, und dadurch wurden die Schatten noch dichter und dunkler. Trotzdem brauchte Judith nicht lange Ausschau halten: Celestine lag vor der 988
gegenüberliegenden Wand. Dowd hatte sie verletzt - daran bestand kein Zweifel. Die blasse Haut wies Kratzer und Risse auf, im Bereich von Oberschenkel, Hüfte und Schulter.
Vielleicht wirkt sich Roxboroughs Läuterungseifer noch immer im Turm aus, dachte Judith. Innerhalb von nur einer Stunde hatte sie beobachtet, wie das Schicksal bei drei Apostaten zuschlug: Einen erwischte es oben, die beiden anderen im Keller. Die - ehemalige - Gefangene schien nicht so sehr gelitten zu haben wie die anderen. Sie mochte verletzt sein, verfügte jedoch über genug Kraft, um Jude mit einem feurigen Blick zu durchbohren.
»Bist du gekommen, um dich hämischer Freude hinzugeben?«
»Ich habe versucht, dich zu warnen«, sagte Judith. »Ich möchte nicht, daß wir Feinde sind. Es geht mir darum, dir zu helfen.«
»Wer hat dir das befohlen?«
»Niemand. Warum glaubst du, jeder müsse ein Sklave oder eine Hure sein, oder ein gehorsamer Hund?«
»Auf diese Weise ist die Welt beschaffen«, behauptete Celestine.
»Sie hat sich geändert.«
»Tatsächlich? Sind die Menschen aus ihr verschwunden?«
»Es entspricht nicht der Natur des Menschen, ein Sklave zu sein.«
»Was weißt du schon?« erwiderte die Gestalt. »In dir rieche ich nicht viel Menschlichkeit. Du bist etwas anderes, wie? Von einem Maestro geschaffen.«
Es wäre Judith sehr unangenehm gewesen, eine so abfällige Bemerkung von jemand anderem zu hören. Aber daß solche Worte von den Lippen der Frau kamen, auf die sie ihre Hoffnungen konzentriert hatte... Judith war mehr als nur enttäuscht; sie glaubte zu spüren, wie etwas in ihr zerbrach. Sie hatte sich bemüht, mehr zu sein als nur die Kopie einer anderen 989
Person, ein Ebenbild, das seine Entstehung Verlangen und Begierde verdankte. All dies zerstörte Celestine mit einigen wenigen Worten.
»Du bist alles andere als natürlich«, sagte die Befreite.
»Das gilt auch für dich!« entfuhr
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