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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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anderen Menschen beobachtete Verzweiflung verwandelte den eigenen Kummer fast in etwas Banales.
    In dieser Nacht verweilte er länger als sonst in der dunklen Stadt. Er wußte: Sobald die Sonne aufging, konnte er nicht mehr schlafen. Aber das Bedürfnis, die Augen zu schließen und zu ruhen, hatte an Bedeutung verloren. Zwei Tage waren seit jenem Zwischenfall vergangen, der ihn aufgeregt zu Judith gebracht und ihn veranlaßt hatte, von Engeln und dergleichen zu sprechen. Seitdem deutete nichts mehr auf Taylors Präsenz 993

    hin. Doch es gab andere Hinweise, nicht im Haus, sondern auf den Straßen: Seltsame Mächte entfalteten sich, und der geliebte Taylor gehörte zu ihnen.
    Er entsann sich an ein Beispiel dafür. Kurz nach Mitternacht hatte jemand in Soho randaliert, ein gewisser Tolland - bei den Leuten, die unter Brücken und auf Parkbänken schliefen, galt er als berüchtigt. In einer Gasse verletzte er zwei Alkoholiker, deren einziges Verbrechen darin bestand, ihm im Weg gewesen zu sein. Clem hatte diesen Vorgang nicht selbst beobachtet und war nach Tollands Verhaftung eingetroffen, um festzustellen, ob er den Verwundeten irgendwie helfen konnte. Er fand eine ganze Gruppe vor, doch niemand wollte ihn zu einem Obdachlosenheim begleiten. Eine Frau, die Clem zum erstenmal sah und die den Anschein erweckte, nie Tränen vergossen zu haben, lächelte und meinte, er sollte mit ihr und den anderen draußen bleiben, anstatt daheim ins Bett zu kriechen. Als er sich nach dem Grund dafür erkundigte, erwiderte sie, der Herr käme bald, und das Volk der Straße sähe ihn zuerst. Unter anderen Umständen hätte Clem die glücklich klingenden Worte der Frau für Unsinn gehalten, aber Taylors Erscheinen ermöglichte es ihm, die Dinge aus einer neuen Perspektive zu sehen - die allgemeine Atmosphäre kündigte Wundersames an. Als er fragte, wer der Herr sei, antwortete die Frau, das spiele überhaupt keine Rolle. Warum einen Gedanken daran verschwenden, was für ein Herr unterwegs sei? Wichtig war nur, daß Er kam.
    Noch eine Stunde trennte die Nacht vom Morgen, und Clem schlenderte über die Waterloo Bridge: Er hatte gehört, daß sich das Herrschaftsgebiet des psychopathischen Tolland im Bereich der South Bank erstreckte - irgend etwas Seltsames mußte dort geschehen sein, um ihn über die Brücke zu treiben.
    Clem wollte der Sache auf den Grund gehen, und die Aussicht, mehr in Erfahrung zu bringen, übte genug Reiz aus, um auf Matratze und Kopfkissen zu verzichten.
    994

    Taylor hatte die Betonklötze der South Bank häufig kritisiert und insbesondere dann gegen sie gewettert, wenn es bei Diskussionen um zeitgenössische Architektur ging. Derzeit täuschte Finsternis über die Häßlichkeit der Fassaden hinweg; sie bewirkte auch, daß sich die vielen Unterführungen und Wege in ein Territorium verwandelten, von dem sich ›normale‹
    Bürger fernhielten, weil sie um Leben oder Brieftasche fürchteten. Die jüngsten Erfahrungen hatten Clem gelehrt, solche Angst zu ignorieren. Derartige Labyrinthe enthielten für gewöhnlich Individuen, die Opfer der Gewalt waren, deren Schreie allein zur Verteidigung dienten; ihr Zorn mochte Entsetzen bringen, wenn er aus dem Schatten wuchs, doch meistens endeten die Tiraden schon nach kurzer Zeit in Tränen.
    Clem hörte nicht einmal ein Flüstern, als er die Brücke verließ und sich nach unten wandte. Kurze Zeit später sah er den Rand der Stadt aus Karton und Pappe: Er zeigte sich im Licht der Straßenlaternen. Doch der größte Teil blieb in der Dunkelheit dahinter verborgen. Stille herrschte dort. Der Wanderer begann zu ahnen, daß nicht nur Tolland aufgebrochen war, um nach Norden zu ziehen. Er sah seine Vermutungen bestätigt, als er die ersten Schlafplätze erreichte und sie leer vorfand. Nach kurzem Zögern holte Clem seine Taschenlampe hervor und schritt damit durchs Dunkel. Die hier üblichen Dinge lagen auf dem Boden: Nahrungsreste, Glassplitter von zerbrochenen Flaschen, Erbrochenes. Die großen Kartons mit den Betten aus Zeitungen und schmutzigen Decken erwiesen sich als leer. Er wurde immer neugieriger, tastete sich durch eine Welt des Drecks und hoffte, irgendwo jemanden zu finden, der zu schwach oder zu verrückt war, um den anderen gefolgt zu sein, der erklären konnte, aus welchem Grund seine Gefährten ihre ›Heimat‹ verlassen hatten. Doch während er den Weg fortsetzte, entdeckte er nicht einen einzigen Bewohner dieser Stadt. Nach einer Weile erreichte er etwas, das

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