Imagica
die Planer dieser Hölle aus Beton als 995
Kinderspielplatz vorgesehen hatten. Nur das rostige Gestell einer Rutsche und ein Klettergerüst erinnerten noch an die guten Absichten. Die Bodenplatten dahinter präsentierten allerdings frische Farben, und nach einigen weiteren Schritten sah er sich mit einer Ansammlung von Kitsch konfrontiert: mit Kreidestiften gemalte Bilder von Filmstars und Glamourgirls.
Er leuchtete mit der Taschenlampe, und ihr Lichtstrahl glitt über die Bilder hinweg und kroch zu einer ebenfalls bemalten Wand, die jedoch einen anderen Stil offenbarte. Dies war nicht das Werk eines Kopisten. Es handelte sich um eine so große und komplexe Darstellung, daß Clem den Lichtkegel hin und her wandern lassen mußte, um sie in ihrer ganzen Pracht zu erkennen. Allem Anschein nach hatte eine Gruppe philanthropischer Maler beschlossen, diese graue, schäbige Welt auszuschmücken, und das Ergebnis bestand in einer Traumlandschaft: der Himmel grün, von gelben Streifen durchsetzt; die Ebene darunter orangefarben und rot. Aus dem Sand wuchs eine fantastische Stadt, umgeben von einem Wall und ausgestattet mit schwindelerregend hohen Türmen. Das Licht der Taschenlampe bewirkte glitzernde Reflexe, und als sich Clem der Mauer näherte, stellte er fest: Die Maler hatten ihre Arbeit erst vor kurzer Zeit beendet; hier und dort mußte die Farbe noch trocknen. Als der Abstand geringer wurde, gewann der Beobachter einen besseren Eindruck von der Struktur des Bildes. Es fehlten Einzelheiten: Kaum mehr als ein halbes Dutzend Striche formten die Stadt und ihre Minarette; ein einziger genügte für die vom Tor ausgehende Straße.
Clem wandte sich von der Mauer ab, leuchtete um sich - und begriff, warum die Maler keine Details hinzugefügt hatten. Sie waren überall an der Arbeit gewesen, um jede zur Verfügung stehende Wand mit Farbe zu bedecken, und hatten dadurch eine regelrechte Bilderparade geschaffen. Viele Szenen boten noch mehr Exotik als jene Landschaft, über der sich ein grüner 996
Himmel erstreckte. Links von Clem befand sich eine Gestalt mit einem Kopf aus zwei gewölbten Händen, zwischen denen Funken hin und her stoben; rechts sah er eine Gruppe aus Leuten, in deren Gesichtern Pelz wuchs. Hinzu kamen: eisverkrustete, schneebedeckte Berge, ein Gletscher, über dem mehrere nackte Frauen schwebten; eine Steppe, deren Boden aus Totenschädeln zu bestehen schien, in der Ferne ein Zug, von einer qualmenden Lokomotive gezogen; eine Insel in einem See mit nur einer einzigen Welle, deren Schaum die Konturen eines Gesichts andeutete - alles mit der gleichen Mischung aus Leidenschaft und Hast gemalt wie das erste Bild.
Dadurch bekamen die Szenen etwas Eindringliches. Vielleicht lag es anClems Zustand oder der Umgebung - die Darstellungen berührten etwas in ihm. Sie hatten nichts Sentimentales, und sie waren auch nicht bestrebt, Schönheit zu vermitteln. Sie stellten Streiflichter dar, dem Denken und Fühlen von Fremden entnommen, und es begeisterte Clem, ausgerechnet hier solche Wunder zu finden.
Während sein Blick den bunten Szenen gefolgt war, hatte er die Orientierung verloren, und er schaltete nun die Taschenlampe aus, um sich vom Licht der Straßenlaternen die Richtung weisen zu lassen. Dabei fiel ihm ein kleines Feuer auf, das weiter vorn brannte. Aus einem Reflex heraus setzte er sich in Bewegung, vom flackernden Schein angelockt. Leute standen und saßen am Feuer, in einem Bereich, der im Gegensatz zu dem allgemeinen Beton fast einem Garten glich.
Vielleicht wuchsen dort einst Rosen oder Zierbüsche; vielleicht waren dort irgendwelchen Stadtvätern gewidmete Sitzbänke aufgestellt gewesen. Jetzt gab es nur noch spärliches Gras zwischen den Abfällen. An jenem Ort hatten sich die Bewohner der Stadt aus Karton und Pappe eingefunden - oder zumindest einige von ihnen. Die meisten schliefen oder benutzten ihre Mäntel als Decken. Doch fünf oder sechs waren wach, weilten am Feuer und rauchten eine gemeinsame 997
Zigarette.
Ein muskulöser Schwarzer nahm die Aufgaben eines Wächters wahr und hockte auf einer niedrigen Mauer neben dem Tor. Er stand auf, als er den Neuankömmling bemerkte, aber Clem wich nicht zurück. In der Haltung des Mannes kam keine Drohung zum Ausdruck, und im Garten hinter ihm blieb alles friedlich. Die Schläfer rührten sich nicht, schienen ruhige Träume zu genießen. Und die Personen am Feuer flüsterten miteinander. Dann und wann lachten sie, und es klang tatsächlich heiter,
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