Imagica
Godolphin hat mir nie davon erzählt.«
»Weil er nichts wußte.«
»Im Gegensatz zu dir?« Dowd ging weiter und beobachtete die Schnüre. »Ich bin beeindruckt. Wir haben beide unsere kleinen Geheimnisse gehütet, wie?«
Einer der Fäden ragte plötzlich aus dem Schutt auf, und Dowd sprang zurück. Das Taschentuch fiel ihm aus der Hand, entfaltete sich und gab einen Körperteil von Oscar frei. Judith erkannte die blutige Masse sofort: Der ehemalige Assistent und Diener hatte den Penis des Herrn abgeschnitten, um ihn als Andenken zu behalten.
Sie stöhnte voller Abscheu. Dowd bückte sich, um das Stück Fleisch aufzuheben, und jäher Zorn explodierte in Judith, eine Wut, die sie nicht beherrschen konnte.
»Du verdammter Mistkerl!« entfuhr es ihr. Sie griff an, hob beide Hände und formte eine gemeinsame Faust aus ihnen.
Die vielen Zapfensplitter bedeuteten Schwerfälligkeit für 982
Dowd, und er konnte sich nicht rechtzeitig genug aufrichten, um dem Hieb auszuweichen. Sie traf ihn am Hals - ein Schlag, der ihr mehr Schmerzen bereitete als ihm. Aber es gelang ihr, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen: Er taumelte, wurde ein Opfer der Schwerkraft und fiel. Ganz offensichtlich fühlte er sich dadurch gedemütigt, denn seine Züge verzerrten sich.
»Dumme Gans!« knurrte er. »Du dumme, sentimentale Gans! Heb den Schwanz auf! Na los, heb ihn auf! Nimm ihn ruhig; er gehört dir.«
»Ich will ihn nicht.«
»Ich bestehe darauf. Er ist ein Geschenk, vom Bruder für die Schwester.«
»Ich bin nicht deine Schwester! Ich war es nie, und ich werde es nie sein!«
Käfer krabbelten ihm aus dem Mund, während er auf dem Boden lag; die Veränderung in ihm hatte einige von ihnen bis zur Größe von Kakerlaken wachsen lassen. Judith wußte nicht, ob sich Dowd damit vor der Präsenz im offenen Kerker schützen oder sie für den Hieb bestrafen wollte, aber sie trat sicherheitshalber einen Schritt zurück.
»Ich verzeihe dir«, sagte er und gab sich großzügig. »Du hast eine Menge hinter dir und bist überreizt.« Er hob den Arm.
»Hilf mir auf. Bitte sag mir, daß es dir leid tut - dann ist alles vergessen.«
»Ich verachte dich«, entgegnete Jude.
Trotz der Käfer war es nicht etwa Mut, der sie zu einer solchen Antwort veranlaßte, sondern Vorsicht. Sie hielt sich hier an einem Ort der Macht auf, und deshalb zog sie die Wahrheit selbst höflichen Lügen vor.
Dowd ließ den Arm sinken und stemmte sich mühsam in die Höhe. Judith wandte sich von ihm ab, griff nach dem blutigen Taschentuch und nahm jenen Teil Oscars, den sie einst in sich gespürt hatte. Als sie anschließend den Kopf hob, bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Eine blasse Gestalt 983
erschien in dem Loch, hinter dem sich der Kerker erstreckte -
Celestine schwebte dort. Besser gesagt: Sie wurde getragen von langen Tentakeln. Die Fäden der Fesseln baumelten zerfetzt an ihrem Leib und umschmiegten kapuzenartig das Haupt. Das Gesicht zeichnete sich durch eine feinknochige Struktur aus, wirkte jedoch streng und schien einen großen Teil der einstigen Schönheit durch den ständigen Einfluß von Zorn und Wahnsinn verloren zu haben.
Dowd war unterdessen halb aufgestanden und drehte sich nun um, folgte dem erstaunten Blick Judiths. Als er die Gestalt sah, ließ ihn sein Körper im Stich, und er fiel in den Schutt zurück. Ein verblüfftes und entsetzt klingendes Wort drang aus dem mit Käfern gefüllten Mund.
»Celestine?«
Die Frau tastete nach den Ziegeln, hinter denen sie so lange gefangen gewesen war. Sie übte nur sanften Druck aus, aber die Steine schienen vor ihren Fingern zu fliehen, glitten fort und gesellten sich den anderen am Boden hinzu. Das Loch in der Wand bot der Gestalt nun genug Platz, um die dunkle Kammer zu verlassen, doch sie verweilte dort im Schatten. Ihr Blick huschte hin und her, und die zitternden Lippen teilten sich, als wollten sie einen Fluch ausstoßen. Sie folgte Dowds Beispiel und beschränkte sich ebenfalls auf ein Wort: »Dowd.«
»Ja...«, murmelte er. »Ich bin es. Wer hat dich dort eingemauert?«
»Warum fragst du mich das?« erwiderte Celestine. »Du bist doch daran beteiligt gewesen?« In ihrer Stimme ertönte die gleiche Mischung aus Irrsinn und kühler Fassung, die auch in der Körperhaltung Ausdruck fand. Neben einem fast freundlichen Klang vernahm Judith ein unheilvolles Vibrieren, das jede Silbe untermalte.
»Ich wußte nichts davon, das schwöre ich«, gab Dowd zurück. Er drehte den schweren
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