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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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es Judith.
    »Ich war es einst«, entgegnete Celestine. »Und ich halte daran fest.«
    »Niemand kann sich an der Vergangenheit festhalten.Keine natürliche, normale Frau ist imstande, eingemauert zwei Jahrhunderte zu überleben.«
    »Ich nährte mich von Rache.«
    »Die sich auf Roxborough bezog?«
    »Auf sie alle. Mit einer Ausnahme.«
    »Wen meinst du?«
    »Den Maestro... Sartori.«
    »Kennst du ihn?«
    »Nicht gut genug«, sagte Celestine.
    Jude erahnte einen Kummer, dessen Bedeutung sie nicht verstand. Doch sie konnte diesen besonderen Schmerz lindern und entschied sich dazu, obgleich Celestine grausam und undankbar gewesen war:
    »Sartori ist nicht tot.«
    Celestine hatte sich halb umgedreht, aber nun kehrte ihr Blick zu Judith zurück.
    »Nicht tot?«
    »Ich finde ihn für dich, wenn du möchtest.«
    »Dazu wärst du in der Lage?«
    »Ja.«
    »Bist du seine Mätresse?«
    »Nicht unbedingt.«
    »Wo befindet er sich? In der Nähe?«
    »Seinen genauen Aufenthaltsort kenne ich nicht. Er dürfte irgendwo in der Stadt sein.«
    »Hol ihn. Bitte hol ihn.« Celestine zog sich an der Wand 990

    hoch. »Mein Name ist ihm nicht vertraut, aber ich kenne ihn.«
    »Und wenn er sich nach dir erkundigt? Was soll ich ihm sagen?«
    »Frag ihn... Frag ihn, ob er sich an Nisi Nirwana erinnert.«
    »An wen?«
    »Sag ihm das.«
    »Nisi Nirwana.«
    »Ja.«
    Judith richtete sich auf und ging zum Loch in der Wand.
    Doch als sie hindurchklettern wollte, um den Korridor zu erreichen, erklang noch einmal Celestines Stimme.
    »Wie heißt du?«
    »Judith.«
    »Nun, Judith... Du riechst nicht nur nach Koitus, sondern hast die ganze Zeit über ein bestimmtes Objekt in der Hand gehalten. Du solltest es endlich loslassen.«
    Verwirrt senkte Jude den Kopf und blickte auf das Etwas hinab - Oscars abgeschnittener Penis hing halb aus ihrer Faust.
    Sie warf ihn fort.
    »Wundert es dich, daß ich eine Hure in dir sah?« fragte Celestine.
    »Wir haben uns beide geirrt«, erwiderte Judith und musterte die Befreite. »Ich hielt dich für meine Rettung.«
    »Dein Irrtum war größer als meiner«, kommentierte Celestine.
    Judith reagierte nicht auf diese letzte Boshaftigkeit und verließ die Kammer. Die Käfer aus Dowds Leiche krabbelten noch immer ziellos umher und suchten nach einem neuen Schlupfloch. Das von ihnen aufgegebene Fleisch existierte nicht mehr, was Jude kaum überraschte. Dowd war ganz und gar Schauspieler gewesen und hätte die Szene des eigenen Todes so lange hinausgeschoben, bis er sicher sein konnte, die volle Aufmerksamkeit des Publikums zu genießen - bis der letzte Vorhang fiel. Doch diese Hoffnung ging nicht in 991

    Erfüllung, und ein Grund dafür waren Ruhm und Reputation der anderen Darsteller. Ein kolossales Drama fand statt, und seine Wurzeln reichten bis zu einer Legende zurück, die den Rekonzilianten Christos betraf. Je mehr Judith davon sah und verstand, desto mehr reifte die Erkenntnis in ihr heran, daß sie keine oder eine nur unbedeutende Rolle dabei spielte. In diesem Zusammenhang erging es ihr wie damals dem vierten Weisen aus dem Morgenland: Ein neues Evangelium wurde geschrieben, und darin gab es keinen Platz für ihn. Jude wollte nicht ihre Zeit damit verschwenden, ein neues Buch der Könige zu schreiben - nur damit man es später zerriß und vergaß.
    992

KAPITEL 49
l
    Es dauerte nicht mehr lange bis zur Morgendämmerung, und Clem beendete die Arbeit. Seit sieben Uhr am vergangenen Abend durchstreifte er die Stadt und nahm dabei die gleichen Pflichten wahr wie in den vergangenen Nächten: Er half den Obdachlosen und allen anderen, die nicht aus eigener Kraft im Betondschungel überleben konnten. Nur noch zwei Tage bis Sommersonnenwende - die Nächte waren kurz und relativ warm. Doch nicht nur Kälte lauerte den schwachen Menschen auf; Clem bemühte sich, die Hilflosen auch vor anderem Unheil zu bewahren. Dieses Bemühen erschöpfte ihn, aber gleichzeitig bescherte es ihm so intensive Empfindungen, daß er keine Ruhe fand. In den letzten drei Monaten hatte er mehr menschliches Elend gesehen als während der vier Jahrzehnte vorher. Personen, die in bitterer Armut lebten, nur einen Steinwurf von den deutlichsten Symbolen für Gerechtigkeit, Glauben und Demokratie entfernt: ohne Geld, ohne Hoffnung, in besonders traurigen Fällen auch ohne Verstand. Wenn Clem nach solchen nächtlichen Erlebnissen heimkehrte, war die durch Taylors Tod in ihm entstandene Leere zwar nicht gefüllt, aber zumindest vergessen. Die bei

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