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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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und nach einem Taxi Ausschau hielt. Viele Jahre waren verstrichen, seit sich dem Killer zum letztenmal ein so angenehmer Anblick dargeboten hatte. Die Welt veränderte sich, aber jener Mann 100

    blieb immer er selbst. Er kam einer Konstante gleich, und die eigene Vergeßlichkeit schützte ihn vor dem Wandel - er erneuerte sich ständig, und deshalb gehörte ihm die Ewigkeit.
    Pie beneidete ihn. Für Gentle war die Zeit wie Rauch, der Schmerz und Selbsterkenntnis auflöste. Pie hingegen empfand sie als einen Sack, in den jeden Tag - jede Stunde - ein weiterer schwerer Stein gelegt wurde, bis das Rückgrat unter seinem Gewicht knackte. Bis zu diesem Abend hatte er sich keine Erlösung erhofft. Doch dort, am Rand der Park Avenue, ging ein Mann, der alles Zerbrochene zusammenfügen und selbst die Wunden in Pies Seele heilen konnte. Ganz gleich, ob Zufall dahintersteckte oder das verborgene Wirken des Unerblickten: Eine solche Begegnung konnte nicht ohne Bedeutung sein.
    Einige Minuten vorher hatte der entsetzte Pie versucht, Gentle zu vertreiben, und als sein Bemühen ohne Erfolg geblieben war, hatte er die Flucht ergriffen. Jetzt erschien ihm die eigene Furcht absurd. Was gab es zu befürchten?
    Veränderung? Er hieß sie willkommen. Offenbarung? Freude verband sich mit dieser Vorstellung. Tod? Welchen Schrecken hatte der Tod für einen Assassin? Wenn er irgendwann sterben mußte, so war er bereit, sich damit abzufinden. Kein Grund, eine gute Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Er schauderte. Es war kalt hier im Hauseingang, ebenso kalt wie in diesem Jahrhundert. Insbesondere für jemanden wie ihn. Er liebte die Jahreszeit des Schmelzens, wenn der Saft stieg und heller Sonnenschein alles ermöglichte. Doch seine Hoffnung auf eine derartige Zeit des Sprießens schlief schon seit vielen Jahren. Die Umstände hatten ihn gezwungen, zu viele Verbrechen in dieser freudlosen Welt zu begehen. Er hatte zu viele Herzen gebrochen. Wahrscheinlich galt das auch für Gentle.
    Und wenn sie verpflichtet waren, jenen schwer faßbaren Frühling zugunsten der Personen zu suchen, die durch ihre Schuld leiden mußten? Vielleicht bestand ihre Aufgabe darin, auch weiterhin zu hoffen. Nun, in dem Fall hatte Pie ein neues 101

    Verbrechen verübt, als er nicht etwa die Vereinigung gesucht hatte, sondern geflohen war. Hatte ihn die lange Einsamkeit zu einem Feigling gemacht? Nein.
    Er wischte sich Tränen aus den Augen, trat auf den Bürgersteig und folgte dem durch die Nacht humpelnden Gentle. Vielleicht stand tatsächlich ein neuer Frühling bevor, dem ein Sommer der Rekonziliation folgte.
    102

KAPITEL 8
1
    Nachdem Gentle ins Hotel zurückgekehrt war, spielte er zunächst; mit dem Gedanken, Judith anzurufen. Doch sie hatte keinen Zweifel an ihren Gefühlen ihm gegenüber gelassen, und die Vernunft gebot, erst einmal abzuwarten, bis sich die erhitzten Gemüter abkühlten. Heute abend war er mit zuviel Rätselhaftem konfrontiert worden, um sein Unbehagen einfach zu vergessen. Die Straßen dieser Stadt bestanden aus fester Substanz, ebenso wie die Gebäude rechts und links davon, und selbst des Nachts spendeten die Lampen genug Licht, um Doppeldeutigkeit und Zwielicht zu vertreiben. Trotzdem gewann Gentle den Eindruck, am Rand eines unbekannten Landes zu wandeln. Vielleicht durchquerte er es sogar, ohne sich dessen bewußt zu sein. Wenn das tatsächlich der Fall war: Tat Judith das gleiche? Sie schien fest entschlossen zu sein, ihr Leben von seinem zu trennen, aber Gentle ahnte, daß ihre Schicksale miteinander verflochten waren.
    Dafür gab es keine logische Erklärung. Jenes Gefühl war ein Geheimnis, und Geheimnisse gehörten nicht zu seinen Spezialitäten. Sie boten Gesprächsstoff nach einem guten Essen, wenn man im Kerzenschein und unter dem Einfluß von Brandy Beichten ganz besonderer Art ablegte und das Interesse an Bizarrem eingestand. Gentle kannte Beispiele dafür: Rationalisten, die zugaben, jeden Tag das Horoskop zu lesen; Atheisten, die behaupteten, Göttliches gespürt zu haben. Er hatte von telepathischen Zwillingen und Prophezeiungen auf dem Todesbett gehört. Nun, solche Diskussionen mochten recht amüsant sein, aber sie bestanden eben nur aus Worten.
    Dies hier war die Realität. Dies geschah wirklich. Und deshalb vibrierte Unruhe in Gentle.
    103

    Schließlich gab er ihr nach, suchte Marlins Nummer im Telefonbuch und wählte sie. Judiths neuer Geliebter nahm ab.
    Er klang aufgeregt und nervös, und in seiner Stimme

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