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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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ertönte zusätzliche Schärfe, als sich Gentle vorstellte.
    »Ich weiß nicht, was für verdammte Spielchen Sie treiben...«, begann er.
    »Von irgendwelchen ›Spielchen‹ kann keine Rede sein«, antwortete Gentle.
    »Ich rate Ihnen, sich von diesem Apartment fernzuhalten...«
    »Ich beabsichtige nicht...«
    »...denn wenn ich Sie hier erwische...«
    »Kann ich Jude sprechen?«
    »Judith ist nicht...«
    »Ich bin am anderen Apparat«, sagte sie.
    »Leg auf, Judith! Sprich nicht mit dem Mistkerl!«
    »Beruhige dich, Marlin.«
    »Haben Sie gehört, Marlin? Sie sollen sich beruhigen.«
    Marlin knallte den Hörer auf die Gabel.
    »Er scheint ziemlich mißtrauisch zu sein«, sagte Gentle.
    »Er glaubt, du steckst hinter der ganzen Sache«, erwiderte Judith.
    »Hast du ihm von Estabrook erzählt?«
    »Nein, noch nicht.«
    »Aber vermutlich weiß er, daß ich nur einen Job erledige, stimmt's?«
    »Hör mal, Gentle, ich bedauere meine Bemerkungen und entschuldige mich dafür. Vorher war ich völlig durcheinander.
    Wenn du nicht eingegriffen hättest, wäre ich vielleicht tot.«
    »Von wegen ›vielleicht‹«, sagte Gentle. »Unser Freund Pie meint's ernst.«
    »Er meint etwas«, schränkte Judith ein. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich auf meinen Tod aus ist.«
    »Der Kerl war auf dem besten Wege, dich zu erwürgen!«
    »Tatsächlich? Oder wollte er nur dafür sorgen, daß ich nicht 104

    schreie? Er sah mich auf eine so seltsame Weise an...«
    »Ich glaube, wir sollten uns treffen, um darüber zu reden«, sagte Gentle. »Vielleicht erlaubt dir dein Neuer einen späten Drink. Ich hole dich direkt vor der Tür ab - es besteht also keine Gefahr.«
    »Nein, lieber nicht. Ich muß packen. Morgen kehre ich nach London zurück.«
    »War das geplant?«
    »Nein. Aber bestimmt fühle ich mich sicherer, wenn ich wieder zu Hause bin.«
    »Begleitet dich Mervin?«
    »Er heißt Marlin. Nein, er bleibt hier.«
    »Ein echter Narr.«
    »Ich muß jetzt Schluß machen. Danke dafür, daß du an mich gedacht hast.«
    »Deshalb brauchst du mir nicht zu danken«, entgegnete Gentle. »Falls du dir bis morgen früh Gesellschaft wünschst...«
    »Das wird sicher nicht der Fall sein.«
    »Man kann nie wissen. Ich wohne im Omni, Zimmer 103.
    Mir steht ein Doppelbett zur Verfügung.«
    »Dann hast du viel Platz.«
    »Ich denke auch weiterhin an dich.« Gentle zögerte, bevor er hinzufügte: »Es freut mich, daß wir uns noch einmal gesehen haben.«
    »Und mich freut es, daß du dich freust.«
    »Soll das heißen, du bist nicht froh darüber?«
    »Ich muß jetzt meine Sachen zusammenpacken. Gute Nacht, Gentle.«
    »Gute Nacht.«
    »Viel Spaß.«
    2
    Gentle packte seinen Koffer, und anschließend bestellte er ein einfaches Abendessen: Club-Sandwich, Eiscreme, Bourbon 105

    und Kaffee. Nach den Mühen draußen in der Kälte weckten Wärme und Gemütlichkeit des Zimmers Trägheit in ihm. Er zog sich aus, aß nackt vor dem Fernseher und zupfte die Krümel wie Läuse aus dem Schamhaar. Nach dem Sandwich verspürte er keinen Appetit mehr auf das Eis und trank statt dessen den Bourbon, der sofort seine Wirkung entfaltete.
    Gentle ließ den Fernseher eingeschaltet, als er ins Nebenzimmer taumelte und aufs Bett sank. Einige Sekunden lang lauschte er dem Murmeln aus dem TV-Lautsprecher, dann fielen ihm die Augen zu.
    Leib und Seele befaßten sich mit verschiedenen Dingen. Der Körper atmete, rollte sich von einer Seite auf die andere, schwitzte, verdaute. Der Geist träumte. Zuerst von Manhattan, auf einem Teller serviert - eine in jedem Detail perfekte Nachbildung. Serviert von einem Kellner, der flüsternd fragte, ob der Herr Nacht wünschte. Nacht, die in Form von Blaubeersirup kam: Er tropfte auf den Teller herab, glitt klebrig über Wolkenkratzer und Straßen. Später wanderte Gentle durch jene Straßen, zwischen den hohen Gebäuden, Hand in Hand mit einem Schatten, dessen Präsenz Freude bedeutete; als sie eine Kreuzung erreichten, drehte sich der Schemen um und berührte ihn mit einem fedrigen Finger mitten auf der Stirn, als dämmere nun der Aschermittwoch.
    Ein angenehmes Empfinden breitete sich in Gentle aus. Er öffnete den Mund, und seine Zungenspitze tastete nach dem Handballen. Erneut übte der Finger sanften Druck an der Stirn aus, und Gentle erschauerte voller Wohlbehagen. Er wünschte sich, in der Dunkelheit sehen zu können, um das Gesicht seines Begleiters zu erkennen. Als er die Augen öffnete und sich zu konzentrieren

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