Imagica
zu sein - und mich dadurch irgendwann zu verlieren. Ich möchte dieser oder jener Mann sein, aber nicht alle zugleich. Wenn ich jeder bin,
so bin ich niemand und nichts.«
Er verharrte, wandte sich Clem zu und legte ihm die Hände auf die Schultern.
»Wer bin ich?« fragte er. »Sag es mir. Wenn du mich liebst -
sag es mir. Wer bin ich?«
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»Du bist mein Freund.«
Es war nicht unbedingt eine sehr aussagekräftige Antwort, doch Clem fiel keine andere ein. Gentle musterte ihn eine Zeitlang und schien das gerade gehörte Axiom den eigenen Befürchtungen gegenüberzustellen. Während sein Blick an Clems Zügen haftete, zupfte ein Lächeln an den Mundwinkeln, und Tränen schimmerten ihm in den Augen.
»Du siehst mich, nicht wahr?« kam es leise von seinen Lippen.
»Natürlich sehe ich dich.«
»Ich meine nicht die Augen, sondern den Geist. Ich existiere auch in deinem Kopf.«
»Dort hast du einen festen Platz«, sagte Clem.
Das entsprach der Wahrheit, erkannte Gentle. Er nickte, und sein Lächeln wuchs in die Breite.
»Jemand anderer hat versucht, mich darauf hinzuweisen«, sagte er. »Aber ich habe ihn nicht verstanden.« Er legte eine kurze Pause ein und dachte nach. »Nun, es spielt keine Rolle, wie man mich nennt. Namen bedeuten nichts. Ich bin, was du in mir siehst.« Er schlang die Arme um Clem. »Ich bin dein Freund.«
Nach einer herzlichen Umarmung trat er zurück und wischte sich über die Augen.
»Wer wollte mich lehren, was es mit dem wahren Ich auf sich hat?« überlegte er laut.
»Vielleicht Judith?«
Er schüttelte den Kopf. »Immer wieder sehe ich ihr Gesicht«, sagte er. »Aber jene Weisheit stammt nicht von ihr, sondern von jemandem, der fortging.«
»Von Taylor?« spekulierte Clem. »Erinnerst du dich an Taylor?«
»Er kannte mich ebenfalls?«
»Er hat dich geliebt.«
»Wo hält er sich jetzt auf?«
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»Das ist eine ganz andere Geschichte.«
»Wirklich?« fragte Gentle. »Möglicherweise ist alles eins...«
Sie setzten die Wanderung am Fluß fort, stellten Fragen und lauschten den Antworten. Auf Gentles Bitte hin erzählte Clem Taylors Leben, von der Geburt bis zum Tod, und der Veränderte berichtete zumindest in groben Zügen von seiner Reise. Zwar konnte er sich nur an wenige Details erinnern, aber er wußte: Der Wechsel zu den anderen Welten hatte ihn nicht -
wie Taylor - ins Licht geführt. Unterwegs verlor er viele Freunde, und ihre Namen vermischten sich mit denen aus seinen früheren Leben. Hinzu kam der Tod vieler weiterer Personen. Doch er hatte auch jene Wunder gesehen, die nun diverse Wände zierten: sonnenlose Himmel, die grün und golden schimmerten; einen Palast aus Spiegeln, wie in Versailles; große, geheimnisvolle Wüsten und Kathedralen aus Eis, voller Glocken. Als Clem diese Schilderungen hörte, als er aus zweiter Hand das Panorama fremder Welten erlebte, fühlte er sich von einer sonderbaren Unruhe erfaßt. Bis eben hatte er die Vorstellung von einem unbegrenzten Ich, das aufbrach, um zahlreiche Abenteuer zu erleben, für reizvoll gehalten; jetzt erschienen ihm jene Beschränkungen wünschenswert, die für Gentle absurd gewesen waren. Andererseits... Sie stellten eine Falle dar, und das wußte er. Sie spendeten falschen Trost, mochten schon bald zu Fesseln werden. Clem begriff, daß er sich von seiner alten Denkweise befreien mußte, wenn er diesen Mann zu Orten begleiten wollte, wo Licht von den Seelen Verstorbener ausging, wo das Sein auf Gedanken basierte.
»Warum bist du zurückgekehrt?« fragte er schließlich.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Gentle.
»Wir sollten uns an Judith wenden. Vielleicht hat sie Informationen, die uns fehlen.«
»Ich möchte Montag und die anderen nicht im Stich lassen, Clem. Sie haben mich in ihre Gemeinschaft aufgenommen.«
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»Ich verstehe. Aber jetzt können sie dir nicht mehr helfen.
Sie haben keine Ahnung, was vor sich geht.«
»In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich kaum von uns«, sagte Gentle. »Sie haben zugehört, als ich meine Geschichte erzählte. Sie beobachteten mich beim Malen, stellten mir Fragen und spotteten nicht, als ich von meinen Visionen erzählte.« Er blieb stehen und deutete über die Themse hinweg zum Parlamentsgebäude. »Dort drüben treffen bald die Gesetzgeber ein. Würdest du ihnen gegenüber wiederholen, was du von mir gehört hast? Wenn wir ihnen sagen, daß die Toten im Sonnenschein zurückkehren, daß es Welten gibt, über denen sich ein grüner und goldener
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