Imagica
nicht verzweifelt.
»He, wer bist du?« fragte der Schwarze.
»Ich heiße Clem und habe mich verirrt.«
»Du scheinst nicht daran gewöhnt zu sein, im Freien zu übernachten.«
»Das stimmt.«
»Was führt dich hierher?«
»Wie ich schon sagte: Ich habe mich verirrt.«
Der Wächter zuckte mit den Schulter. »Waterloo Station befindet sich dort drüben«, brummte er und deutete in die Richtung, aus der Clem kam. »Aber du mußt noch eine Weile auf den ersten Zug warten.« Er stellte fest, daß der Fremde in den Garten blickte. »Tut mir leid, aber du kannst nicht bei uns bleiben. Wenn du ein Bett hast, so kehr dorthin zurück.«
Clem rührte sich nicht von der Stelle. Seine Aufmerksamkeit galt einem Mann am Feuer. Er wandte ihm den Rücken zu, doch etwas an ihm erschien vertraut.
»Wer ist das?« fragte er. »Wer spricht dort zu den anderen?«
Der Wächter drehte den Kopf.
»Meinst du den Sanften?« erwiderte er.
»Den Sanften?« wiederholte Clem. Plötzlich verstand er.
»Gentle.«
Er sprach nicht lauter, aber in dieser Stille reichte Clems Stimme weit, bis hin zu den Ohren des Sprechers. Der Mann verstummte und wandte sich langsam zum Tor um. Hinter ihm 998
brannte das Feuer, und vor dem hellen Hintergrund waren seine Züge kaum zu erkennen, aber Clem wußte trotzdem, daß er sich nicht geirrt hatte. Der Sanfte richtete einige knappe Worte an die anderen Gestalten und näherte sich dann dem Besucher.
»Gentle? Ich bin's, Clem.«
Der Schwarze trat beiseite und öffnete das Tor. Gentle verließ den Garten, blieb vor dem Fremden stehen und musterte ihn.
»Sind wir uns schon einmal begegnet?« fragte er. Die Worte klangen nicht feindselig, aber es fehlte ihnen auch jede Wärme.
»Kenne ich dich?«
»Ja, du kennst mich, mein Freund«, bestätigte Clem. »Du kennst mich gut.«
Nebeneinander schritten sie am Fluß entlang, ließen die Schlafenden und das Feuer hinter sich zurück. Es dauerte nicht lange, bis Clem die vielen Veränderungen in Gentle bemerkte.
Zunächst einmal: Die eigene Identität schien ihm ein Rätsel zu sein. Aber außerdem gab es einen Wandel, der noch tiefer ging.
Er sprach mit einer erstaunlichen Offenheit, die sich auch im Mienenspiel niederschlug - zwei neue Wesensaspekte, die sowohl Unbehagen wecken als auch beruhigend wirken konnten. Ein Teil des früheren Gentle war verschwunden, vielleicht für immer. Doch etwas anderes entwickelte sich dafür in ihm, und Clem wollte zugegen sein, wenn es sich ganz entfaltete. Der Name, den ihm der Schwarze gegeben hatte, erschien durchaus angemessen: Ein sanfteres Selbst wuchs im Kern von Gentles Ich.
»Hast du die Bilder gemalt?« fragte Clem.
»Zusammen mit meinem Freund Montag«, erwiderte Gentle.
»Wir haben sie gemeinsam geschaffen.«
»Ein derartiger Stil ist völlig neu für dich.«
»Jede Szene betrifft einen Ort, den ich besucht habe«, erklärte Gentle. »Und Leute, denen ich dort begegnet bin. An viele von ihnen entsinne ich mich erst jetzt wieder. Sie fallen 999
mir ein, wenn ich mit Farbe arbeite. Aber es fällt mir nach wie vor sehr schwer, die Erinnerungen zu sortieren. Chaos herrscht hier drin...« Er hob die Hand zur Stirn, an der sich einige Narben zeigten. »Du nennst mich Gentle. Doch ich habe auch andere Namen.«
»John Zacharias?«
»Das ist einer von ihnen. In mir gibt es einen Mann, der Joseph Bellamy heißt, und hinzu kommen Michael Morrison, Almoth, Fitzgerald und Sartori. Sie alle sind ein Teil von mir, Clem. Sie alle sind ich. Wie kann so etwas möglich sein? Ich habe Montag, Carol und den Iren gefragt. Sie meinten, man kann zwei oder auch drei Namen haben, aber nicht zehn.«
»Vielleicht hast du andere Leben gelebt, Gentle. Und vielleicht fällt dir das jetzt wieder ein.«
»Wenn das stimmt..., dann möchte ich mich nicht erinnern.
Es schmerzt zu sehr. Es hindert mich daran, klar zu denken. Ich möchte ein Mann mit einem Leben sein. Ich möchte wissen, wo ich beginne und aufhöre. Ich ertrage nicht, daß es dauernd weitergeht.«
»Was ist so schrecklich daran?« fragte Clem, der mit diesen Hinweisen nur wenig anzufangen wußte. In den bisherigen Ausführungen konnte er nichts Entsetzliches entdecken.
»Ich habe Angst, daß es nie aufhört«, entgegnete Gentle. Er sprach ruhig und gleichmäßig, wie ein Metaphysiker, der vor einem Abgrund stand und ihn Zuhörern erklärte, die ihm unten in der Tiefe keine Gesellschaft leisten konnten oder wollten.
»Ich fürchte mich davor, mit allem verbunden
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