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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Himmel spannt... Welche Reaktion erwartest du von ihnen?«
    »Man hielte uns für verrückt.«
    »Ja. Und man würde uns in die Gosse werfen, zu Montag, Carol, dem Iren und den anderen.«
    »Sie befinden sich nicht in der Gosse, weil sie Visionen hatten, Gentle«, erwiderte Clem. »Sie leben im Elend, weil sie mißbraucht worden sind - oder weil sie sich selbst mißbraucht und ruiniert haben.«
    »Mit anderen Worten: Sie sind nicht imstande, ihre Verzweiflung so zu verbergen wie alle anderen. Nichts lenkt sie von ihrer Pein ab. Deshalb trinken sie. Deshalb schnappen sie über. Um sich am nächsten Tag noch schlechter zu fühlen.
    Trotzdem bringe ich ihnen mehr Vertrauen entgegen als irgendwelchen Abgeordneten. Sie sind innerlich nackt - aber eine solche Blöße gilt doch als heilig, oder?«
    »Selbst wenn sie heilig sein mag: Sie bietet keinen Schutz«, gab Clem zu bedenken. »Du darfst deine neuen Freunde nicht in diesen Krieg verwickeln.«
    »Wer sagt, daß ein Krieg stattfinden wird?«
    »Judith. Aber selbst wenn sie geschwiegen hätte: Man kann fühlen, daß sich etwas anbahnt.«
    »Weiß sie auch, wer der Feind sein wird?«
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    »Nein. Wie dem auch sei: Ein harter Kampf steht dir bevor, und es wäre nicht richtig, Montag und die anderen direkt daran zu beteiligen. Sie sind für dich da, wenn alles vorbei ist.«
    Gentle dachte darüber nach.
    »Sie könnten Friedensstifter werden«, sagte er schließlich.
    »Ja, warum nicht? Beauftrage sie damit, überall die neuen Denkweisen zu verkünden.«
    Gentle nickte. »Eine gute Idee. Sie wird auch ihnen gefallen.«
    »Machen wir uns jetzt auf den Weg zu Judith?«
    »Ja, einverstanden. Aber zuerst möchte ich mich verabschieden.«
    Der Tag begann, während sie am Ufer zurückwanderten. Als sie die Unterführung erreichten, waren die Schatten dort nicht mehr schwarz, sondern graublau. Erste noch zaghafte Sonnenstrahlen krochen unter die Betonbrücken und näherten sich dem Garten.
    Am Tor wandte sich der Ire an Gentle. »Wo bist du gewesen? Wir dachten schon, du wärst auf und davon.«
    »Ich möchte dir einen Freund von mir vorstellen«, sagte Gentle. »Das ist Clem. Clem, das sind der Ire, Carol und Benedict. Wo steckt Montag?«
    »Er schläft«, sagte Benedict, der des Nachts Wache gehalten hatte.
    »Clem?« wiederholte Carol. »Wie lautet dein voller Name?«
    »Clement.«
    »Ich habe dich schon einmal gesehen«, fuhr die Frau fort.
    »Du verteilst Suppe und so. Das stimmt doch, oder? Ich vergesse nie ein Gesicht.«
    Sie gingen durchs Tor und in den Garten. Inzwischen waren nur noch Reste des Feuers übrig, doch die glühende Asche genügte, um kalte Finger zu wärmen. Gentle ging neben der Feuerstelle in die Hocke und versuchte, halb verkohltem Holz einige Flammen zu entlocken, dann winkte er seinen Begleiter 100
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    zu sich. Clem trat näher - und verharrte plötzlich.
    »Was ist los?« fragte Gentle.
    Clem blickte zu den Schlafenden. Zwanzig oder mehr waren es, und sie weilten noch immer im Reich der Träume, obgleich das Licht des Morgens über sie hinwegstrich.
    »Horch«, flüsterte er.
    Einer der Schlafenden lachte so leise, daß man es kaum hören konnte.
    »Wer ist das?« erkundigte sich Gentle. Das Lachen wirkte ansteckend und veranlaßte auch ihn zu lächeln.
    »Taylor«, sagte Clem.
    »Hier gibt es niemanden namens Taylor«, warf Benedict ein.
    »Bis jetzt«, erwiderte Clem.
    Gentle stand auf und sah über die Schlafenden hinweg.
    Hinten, in einer Ecke des Gartens, lag Montag flach auf dem Rücken, neben einer beiseite gerutschten Decke. Seine Kleidung wies Dutzende von Farbflecken auf. Ein Strahl der Morgensonne glänzte an mehreren Betonsäulen vorbei und traf den Ruhenden mitten auf der Brust, glitt von dort aus weiter zu Kinn und Lippen. Erneut kicherte der Junge, als kitzle ihn der Sonnenschein.
    »Mein Helfer beim Malen«, sagte Gentle.
    »Montag«, erinnerte sich Clem.
    »Ja.«
    Clem ging an den übrigen Schlafenden vorbei und näherte sich dem Jungen. Gentle folgte ihm. Das Lachen verklang, bevor sie Montag erreichten, doch das Lächeln blieb. Der Sonnenstrahl kroch nun über die Oberlippe, vergoldete den dort wachsenden Flaum. Der Jugendliche hielt die Augen geschlossen, aber er schien trotzdem sehen zu können - darauf wiesen seine Worte hin.
    »Sieh mal einer an - Gentle«, sagte er. »Der heimgekehrte Reisende. Oh, ich bin beeindruckt. Ja, das bin ich wirklich.«
    Es war nicht exakt Taylors Stimme - immerhin kam sie aus 1005

    einem anderen,

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