Imagica
zwanzig Jahre jüngeren Kehlkopf -, aber Tonfall und gutmütigen Spott erkannte Gentle sofort wieder.
»Ich nehme an, Clem hat dir gesagt, daß ich mich hier noch immer herumtreibe.«
»Natürlich«, bestätigte Clem sofort.
»Es sind seltsame Zeiten, nicht wahr? Ich habe mehrmals behauptet, in der falschen Epoche geboren worden zu sein, aber es deutet alles darauf hin, daß ich in der richtigen gestorben bin. Soviel zu gewinnen, soviel zu verlieren...«
»Wo soll ich beginnen?« fragte Gentle.
»Du bist der Maestro, nicht ich.«
»Ich bin ein Maestro?«
»Er erinnert sich nicht an alles, Tay«, erläuterte Clem.
»Nun«, fuhr Taylor fort, »wenn ich dir einen guten Rat geben darf, Gentle: Schließ die Lücken in deinem Gedächtnis möglichst schnell. Du hast den Urlaub hinter dir. Jetzt geht's an die Arbeit. Eine schreckliche Leere wartet nur darauf, uns alle zu verschlingen, wenn du versagst. Wenn sie uns erwischt...«
Das Lächeln verschwand aus Montags Gesicht. »Wenn sie hierherkommt und uns verschluckt, dann gibt es keine Geister im Licht mehr - weil gar kein Licht mehr existiert. Übrigens: Wo ist der Beschworene?«
»Wer?«
»Der Mystif.«
Etwas veranlaßte Gentle, schneller zu atmen. »Du hast ihn verloren, und ich begann mit der Suche nach ihm. Ich habe ihn auch gefunden - er beklagte den Tod seiner Kinder. Weißt du noch?«
»Von wem sprichst du?« warf Clem ein.
»Du bist ihm nie begegnet«, sagte Taylor. »Sonst würdest du dich zweifellos an ihn erinnern.«
»Ich fürchte, Gentle hat ihn vergessen.« Clem sah die Verwirrung in den Zügen des Maestros.
»Oh, einen Mystif vergißt man nicht«, widersprach Taylor.
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»Das ist völlig ausgeschlossen. Komm schon, Gentle. Nenn mir seinen Namen. Er liegt dir auf der Zungenspitze.«
Gentles Gesicht zeigte Schmerz.
»Deine große Liebe«, fügte Taylor hinzu. »Nenn mir den Namen! Na los. Nenn ihn mir.«
Gentle runzelte die Stirn, und seine Lippen wölbten sich um tonlose Silben. Schließlich gab die Kehle das gefangene Wort frei.
»Pie...«, murmelte er.
Taylor benutzte Montags Gesicht, um triumphierend zu lächeln.
»Ja...«
»Pie'oh'pah.«
»Na bitte. Wie ich schon sagte: Einen Mystif vergißt man nicht.«
Gentle sprach den Namen noch einmal, und noch einmal, formulierte ihn wie eine Zauberformel. Dann wandte er sich an Clem.
»Jene Weisheit, die ich bis vor kurzer Zeit nicht verinnerlicht habe... Pie bot sie mir an.«
»Wo ist der Mystif jetzt?« fragte Taylor. »Hast du irgendeine Ahnung?«
Gentle ließ sich neben dem schlafenden Montag auf die Knie sinken.
»Fort«, antwortete er und schloß die Hand um den Sonnenschein.
»Nein«, sagte Taylor. »Nur die Dunkelheit kannst du auf diese Weise fangen.« Gentle öffnete die Hand wieder und betrachtete das Licht an den Fingern. »Der Mystif ist also fort?« vergewisserte sich Tay. »Aber wohin verschwand er?
Und wie konntest du ihn ein zweites Mal verlieren?«
»Er begab sich in die Erste Domäne«, entgegnete Gentle.
»Er starb und suchte einen Ort auf, zu dem ich ihm nicht folgen konnte.«
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»Das tut mir leid.«
»Aber ich werde ihn wiedersehen, wenn mein Werk vollbracht ist.«
»Endlich höre ich Entschlossenheit«, kommentierte Taylor.
»Ich bin der Rekonziliant«, fuhr Gentle fort. »Ich bin gekommen, um die Domänen füreinander zu öffnen...«
»In der Tat, Maestro.«
»Bei der Sommersonnenwende...«
»Dann bleibt dir nicht mehr viel Zeit«, stellte Clem fest.
»Morgen ist es soweit.«
»Diesmal werde ich nicht versagen.« Gentle erhob sich. »Ich weiß jetzt, wer ich bin. Er kann mir nicht mehr schaden.«
»Wen meinst du?« fragte Clem.
»Meinen Feind«, erwiderte Gentle und hob das Gesicht dem Sonnenlicht entgegen. »Mich selbst.«
2
Jener Feind, der frühere Autokrat Sartori, befand sich erst seit wenigen Tagen in der Stadt, doch er spürte Sehnsucht, wenn er an die langen, elegischen Morgen- und Abenddämmerungen in der Zweiten Domäne zurückdachte. Hier kam der Tag viel zu schnell, und er ging ebenso rasch zu Ende. Das mußte sich ändern. Zu seinen Plänen für Neu-Yzordderrex gehörte ein Palast aus Spiegeln, aus Glas, das magische Eigenschaften aufwies, um die Pracht einer Dämmerung festzuhalten und zu verlängern, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich zu Hause zu fühlen und glücklich zu sein.
Es war ihm alles anderes als schwer gefallen, die Mitglieder der Tabula Rasa zu überwältigen - vermutlich ein Maß für die
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