Imagica
nicht um mich. Nicht einmal um das Kind.
Ich denke einzig und allein an dein Wohl. Wenn du Hand an dich selbst legst und dir Schmerzen zufügst, wenn ich der Anlaß dafür bin... Dann wäre mein Leben nicht mehr lebenswert.«
»Oh, ich habe keineswegs vor, mir die Pulsadern aufzuschneiden.«
»Das meine ich nicht.«
»Was meinst du dann?«
»Wenn du an eine Abtreibung denkst... Das Kind würde sich zur Wehr setzen. Es hat unseren Willen, unsere Kraft. Es wäre bereit, um sein Leben zu kämpfen - und dich zu töten.
Verstehst du?« Judith schauderte. »Warum schweigst du?«
»Ich habe dir nichts mehr zu sagen. Mit einer Ausnahme: 101
6
Geh zu Celestine.«
»Warum begleitest du mich nicht?«
»Geh endlich. Laß mich allein.«
Judith sah auf. Das Sonnenlicht hatte die Wand hinter Gentle gefunden und erstrahlte dort, doch er blieb im Schatten. Trotz der großen Worte scheute er davor zurück, sich ganz offen zu zeigen. Das Bedürfnis nach Heimlichkeit haftete ihm an der Seele; im Kern seines Wesens blieb er ein Lügner und Aufschneider.
»Ich möchte zurückkehren«, sagte er.
Jude gab keine Antwort.
»Wenn du nicht hier bist..., dann weiß ich, was du von mir willst.«
Ohne ein weiteres Wort ging Gentle zur Tür und verließ die Wohnung. Judith regte sich erst, als sie hörte, wie die Haustür ins Schloß fiel. Sie schüttelte die Starre von sich ab und dachte plötzlich daran, daß er den blauen Stein mitgenommen hatte.
Allem Anschein nach paßte er in das übliche Schema von Leuten, die Spiegel liebten: Er mochte Symmetrie und fand Gefallen an der Vorstellung, einen Teil von Jude in der Tasche zu haben, während sie einen Teil von ihm trug, tief in ihrem Schoß.
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KAPITEL 50
l
Zwar kannte Gentle die Gemeinschaft von der South Bank erst seit wenigen Stunden, aber der Abschied fiel ihm nicht leicht.
In ihrer Mitte hatte er sich sicherer gefühlt als in der Gesellschaft von Männern und Frauen, die er seit Jahren kannte. Der Ire und die anderen hingegen waren an Verluste gewöhnt - derartige Erfahrungen prägten ihr Leben -, und deshalb ging der Trennung keine Theatralik irgendeiner Art voraus. Schweigen begleitete sie. Allein Montag - seine Schikanierung hatte den Fremden aus der Passivität gerissen -
versuchte, Gentle zum Bleiben zu bewegen.
»Es sind nur noch wenige Wände übrig«, sagte er. »Sicher dauert es nicht lange, sie ebenfalls zu bemalen. Einige Tage, höchstens eine Woche.«
»Ich wünschte, ich hätte soviel Zeit«, erwiderte Gentle.
»Aber auf mich wartet Arbeit, die sich nicht aufschieben läßt.«
Montag hatte natürlich geschlafen, während Gentle mit Taylor sprach - nach dem Erwachen erstaunte ihn der Respekt, den man ihm plötzlich entgegenbrachte -, doch die anderen, insbesondere Benedict, konnten dem Vokabular der Wunder neue Wörter hinzufügen.
»Was macht ein Rekonziliant?« wandte er sich an Gentle.
»Wenn du jetzt losziehst, um die anderen Domänen zu durchstreifen, Mann..., dann möchten wir dich begleiten.«
»Ich verlasse die Erde nicht. Aber wenn ich irgendwann eine solche Reise plane, so erfährst du als erster davon.«
»Und wenn wir dich nie wiedersehen?«
»Es würde bedeuten, daß ich versagt habe.«
»Dann wärst du tot?«
»Ja.«
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»Er wird Erfolg haben«, warf Carol ein. »Stimmt's?«
»Aber was fangen wir unterdessen mit unserem Wissen an?«
fragte der Ire. Offenbar fühlte er sich von den geteilten Geheimnissen belastet. »Ohne dich verliert alles seinen Sinn.«
»Nein«, widersprach Gentle. »Berichtet anderen Leuten davon. Auf diese Weise bleibt die Geschichte lebendig - bis sich die Tür zu den Domänen öffnet.«
»Wir sollen davon erzählen?«
»Ja. Überall dort, wo man bereit ist, euch zuzuhören.«
Hier und dort erklang zustimmendes Murmeln, als die Gemeinschaft eine Aufgabe zu erkennen begann, eine Verbindung zwischen den erstaunlichen Schilderungen und jenem Mann, von dem sie stammten.
»Wenn du unsere Hilfe brauchst...«, brummte Benedict. »Du weißt, wo du uns finden kannst.«
»Ja«, entgegnete Gentle und ging mit Clem zum Tor.
»Und wenn jemand nach dir sucht?« rief ihm Carol nach.
»Sag ihm, ich sei vollkommen ausgerastet gewesen. Sag ihm, du hättest mich von der Brücke gestoßen.«
Daraufhin lächelten Carol und auch einige andere.
»In Ordnung, Maestro«, erwiderte der Ire. »Wie dem auch sei: Wenn du nach einigen Tagen nicht zu uns zurückkehrst, suchen wir nach dir.«
Nach dem Abschied gingen Clem
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