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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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ihr davon zu erzählen, wenn der Tod des lästigen Oscar Godolphin sie von der Verpflichtung seiner Familie gegenüber befreite..., dann sah sie bestimmt die Perfektion ihres Ehebunds und spürte seine Vollkommenheit in ihrem Bauch.
    3
    Jude hatte nicht geschlafen und wartete darauf, daß Gentle nach einer weiteren langen Nacht heimkehrte. Sie fand keine Ruhe. Immer wieder dachte sie an Celestine und das Versprechen ihr gegenüber. Dieser Pflicht wollte sie so rasch wie möglich genügen, um anschließend alle Gedanken an jene Frau aus sich zu verbannen. Es gab noch einen anderen Grund, der sie veranlaßte, wach zu bleiben. Die Vorstellung, daß er nach Hause kam und sie im Schlaf beobachtete, wäre noch vor zwei Nächten angenehm gewesen, doch jetzt verursachte sie Unbehagen. Er hatte ihr das Ei genommen, es sich in den Mund geschoben. Judith glaubte, erst ruhen zu können, wenn sich der blaue Stein wieder in ihrem Besitz befand, wenn Gentle nach Highgate aufgebrochen war.
    Der Tag verdrängte die Nacht, als er schließlich zurückkehrte, doch das Licht reichte nicht aus, um seinem Gesichtsausdruck etwas zu entnehmen. Seine Züge verrieten erst Einzelheiten, als ihn nur noch wenige Meter von ihr trennten. Er lächelte, tadelte sie mit sanfter Zärtlichkeit dafür, auf ihn gewartet zu haben. Das sei nicht nötig, betonte er; ihm drohe keine Gefahr.
    Dann veränderte sich sein bis dahin höflicher Tonfall. Er bemerkte Judiths Unruhe und wollte den Grund dafür wissen.
    »Ich bin in Roxboroughs Turm gewesen«, sagte sie.
    »Doch nicht allein, oder? Die Mitglieder der Tabula Rasa 1011

    sind zu allem fähig.«
    »Ich habe mich von Oscar begleiten lassen.«
    »Wie geht es ihm?«
    Jude nahm kein Blatt vor den Mund. »Er ist tot«, erwiderte sie.
    Daraufhin offenbarte Gentles Miene aufrichtigen Kummer.
    »Wie kam es dazu?« fragte er.
    »Das spielt keine Rolle.«
    »Für mich schon«, beharrte er. »Bitte. Ich möchte Bescheid wissen.«
    »Dowd war im Turm und brachte Godolphin um.«
    »Hat er dir etwas zuleide getan?«
    »Nein. Er hat's versucht, aber es gelang ihm nicht.«
    »Ohne mich hättest du jenen Ort nicht aufsuchen sollen. Was ist nur in dich gefahren?«
    Jude schilderte die Gründe mit knappen, einfachen Worten.
    »Roxborough ließ damals jemanden im Keller des Turms einmauern«, sagte sie. »Eine Frau.«
    »Er hat nie darüber gesprochen«, kommentierte Gentle.
    Judith glaubte, in seiner Stimme so etwas wie Bewunderung zu hören, doch sie widerstand der Versuchung, ihn deshalb zu kritisieren. »Du hast also ihre Knochen ausgegraben?«
    »Nein. Ich habe sie befreit.«
    Daraufhin hatte Judith die volle Aufmerksamkeit ihres Zuhö-
    rers. »Ich verstehe nicht ganz...«, entgegnete er verwirrt.
    »Die Eingemauerte lebt.«
    »Dann ist sie kein Mensch.« Gentle lächelte dünn. »Hat sich Roxborough damals die Zeit damit vertrieben, Kokotten zu schaffen?«
    »Ich habe keine Ahnung, was Kokotten sind.«
    »Ewige Huren.«
    »Diese Beschreibung trifft gewiß nicht auf Celestine zu.« Sie dehnte die einzelnen Silben des Namens, doch Gentle ignorierte den Köder. »Sie ist ein Mensch. Das heißt: Sie war 101
    2

    es zumindest.«
    »Und was ist sie jetzt?«
    Jude hob und senkte die Schultern. »Etwas... anderes. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Sie hat Macht. Es gelang ihr, Dowd so schwer zu verletzen, daß er starb.«
    »Warum?«
    »Das solltest du besser von ihr selbst hören.«
    »Weshalb sollte ich ihr zuhören?« fragte Gentle wie beiläufig.
    »Weil Celestine um eine Begegnung mit dir gebeten hat.
    Angeblich kennt sie dich.«
    »Tatsächlich? Hat sie dieser rätselhaften Behauptung eine Erklärung hinzugefügt?«
    »Nein. Sie forderte mich nur auf, dir gegenüber den Namen Nisi Nirwana zu erwähnen.«
    Gentle lachte leise.
    »Bedeutet das etwas für dich?« erkundigte sich Judith.
    »Ja, natürlich. Die Bezeichnung stammt aus einem Märchen für Kinder. Kennst du sie nicht?«
    »Nein.«
    Noch während Jude diese Antwort gab, begriff sie den Grund für ihre Unwissenheit. Gentle sprach ihn laut aus.
    »Natürlich nicht. Du bist nie ein Kind gewesen.«
    Sie musterte ihn und wünschte sich fast, daß bewußte Absicht hinter seiner Grausamkeit steckte. Aber vermutlich handelte es sich nur um eine Taktlosigkeit, die auf einer neuen Art von Naivität basierte.
    »Stattest du ihr einen Besuch ab?«
    »Warum sollte ich das? Ich kenne sie nicht.«
    »Aber sie kennt dich.«
    »Worauf willst du hinaus?« fragte Gentle.

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