Imagica
wiederholte?«
Sartori zögerte, und aufrichtige Neugier erklang in seiner Stimme, als er fragte:
»Oder wärst du dazu imstande? Könntest du den armen Oscar aus dem Reich der Toten ins Leben zurückholen? Ist dazu deine Macht groß genug?«
Er verließ seinen Platz am anderen Ende des Zimmers und näherte sich Gentle. Das Licht des Galgens offenbarte so etwas wie Aufregung in seinem Gesicht.
»Wenn du dazu imstande bist...«, sagte er. »Dann will ich 1047
dein fügsamer Jüngling sein. Das schwöre ich dir.« Sartori schritt an der hängenden Leiche vorbei und blieb vor Gentle stehen. »Das schwöre ich dir«, wiederholte er.
»Laß Godolphin herunter.«
»Warum?«
»Weil dieses Schauspiel sinnlos ist. Und armselig noch dazu.«
»Vielleicht gelten diese Beschreibungen auch für mich«, sagte Sartori. »Vielleicht bin ich von Anfang an sinnlos und armselig gewesen. Vielleicht wird mir das erst jetzt klar.«
Das ist eine neue Taktik, dachte Gentle. Noch vor fünf Minuten hatte sein anderes Selbst Respekt gefordert mit dem Hinweis, daß auch er alle notwendigen Voraussetzungen mitbringe, um ein Messias zu sein, doch jetzt übte er sich ganz und gar in Selbstverleugnung.
»Ich hatte so viele Träume, Bruder. Ach, die Städte, die ich mir vorgestellt habe! Die Reiche! Aber ich wurde einfach nicht den bohrenden Zweifel los. Dauernd flüsterte eine Stimme in meinem Hinterkopf: Es ist alles umsonst; es ist alles umsonst.
Und weißt du was? Jene Stimme behielt recht. Was auch immer ich zu leisten versuchte: Meine Pläne waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Und der Grund dafür ist unsere Natur, unser Wesen.«
Clem hatte erwähnt, daß er in Sartoris Gesicht etwas Tragisches zu erkennen geglaubt habe. Vielleicht stimmte das.
Doch es stellte sich die Frage: Warum war er so tief gesunken?
Gentle wußte, daß er nur jetzt eine Antwort darauf bekommen konnte.
»Ich habe dein Reich gesehen«, erwiderte er. »Nicht irgendein Urteil führte seinen Untergang herbei. Die Mauern deines Imperiums stürzten ein, weil du sie aus Mist und Dreck errichtet hattest.«
»Begreifst du denn nicht? Das Urteil bestand genau darin.
Ich bin der Architekt gewesen - und gleichzeitig der Richter, 104
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der über das Ergebnis urteilte, es verdammte. Was auch immer ich begann: Ich selbst war dabei mein Gegner, ohne es zu ahnen.«
»Aber jetzt weißt du's?«
»Ja. Die Sache könnte nicht klarer sein.«
»Wieso? Erkennst du dich im Schmutz?«
»Nein, Bruder«, sagte Sartori. »Ich brauche nur den Blick auf dich zu richten...«
»Auf mich?«
Sartori starrte den Maestro an, und Tränen schimmerten in seinen Augen.
»Sie hat mich mit dir verwechselt...«, murmelte er.
»Judith?«
»Celestine. Sie wußte nicht, daß es zwei von uns gibt. Sie konnte auch gar nichts davon wissen. Als sie mich sah... freute sie sich. Zuerst.«
In diesen Worten vibrierte ein Schmerz, mit dem Gentle nicht gerechnet hatte. Und es handelte sich um echte Pein: Sartori litt.
»Dann roch sie mich«, fuhr er fort. »Sie roch das Böse in mir, und es widerte sie an.«
»Warum sollte dich das mit Kummer erfüllen?« fragte Gentle. »Immerhin wolltest du sie umbringen.«
»Nein«, protestierte Sartori. »Ich bin nicht mit der Absicht hierhergekommen, sie zu töten. Aber sie griff mich an, und daraufhin blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu verteidigen.«
»Plötzlich bist du die personifizierte Liebe, wie?«
»Zumindest in dieser Hinsicht.«
»Und warum?«
»Du hast uns doch als Brüder bezeichnet, oder?« entgegnete Sartori.
»Ja.«
»Dann ist sie auch meine Mutter. Habe ich nicht das Recht, 1049
sie zu lieben und von ihr geliebt zu werden?«
»Mutter?«
»Ja. Celestine ist deine Mutter. Der Unerblickte hat sie vergewaltigt, und du bist das Ergebnis.«
Gentle war viel zu schockiert, um darauf zu antworten. Zahllose Rätsel füllten seinen mentalen Kosmos, und plötzlich waren sie alle gelöst, führten zu völlig neuen Erkenntissen.
Sartori hob die Hände zum Gesicht, und zitternde Finger tasteten über die Wangen.
»Ich bin als Teufel geschaffen, Bruder«, sagte er. »Ich bin die Hölle für deinen Himmel. Verstehst du? Alle meine Pläne, mein Ehrgeiz, meine Wünsche... Ich konnte gar keinen Erfolg erzielen. Jener Teil von mir, der in dir dominant ist, möchte Großartiges vollbringen, möchte dafür mit Liebe und Ruhm belohnt werden. Doch der andere Teil, der von unserem Vater stammt, erkennt die Sinnlosigkeit solcher
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