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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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fest dazu entschlossen, ein Pneuma einzusetzen, sobald sich Sartori umdrehte.
    »Wieso glaubst du, mich töten zu können, Bruder?« fragte sein Ebenbild und kehrte ihm nach wie vor den Rücken zu.
    »Gott weilt in der Ersten Domäne, und Mutter ist unten, so gut wie tot. Du bist allein und hast nur deinen Atem.«
    Godolphins Leiche schwang noch immer hin und her. Sartori machte keine Anstalten, sich umzudrehen.
    »Und wenn du mich ins Jenseits schickst... Was geschieht dann mit dir? Hast du darüber nachgedacht? Vielleicht bedeutet mein Tod auch dein Ende.«
    Gentle zweifelte nicht daran, daß Sartori in der Lage war, Zweifel in ihm zu wecken. Es handelte sich um ein Äquivalent und die Ergänzung seiner eigenen Fähigkeiten, zu verführen, in Frauen den Wunsch zu wecken, ihm zu gehören. Nun, von solchen Dingen durfte er sich jetzt nicht aufhalten lassen. Er bereitete das Pneuma vor, folgte dem anderen Selbst, ging an Godolphins Leichnam vorbei und blieb dahinter stehen. Sartori weigerte sich noch immer, ihn anzusehen, und zwang Gentle damit, einen Teil seines Atems für Worte zu nutzen.
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    »Sieh mich an, Bruder«, sagte er.
    Sartoris Körpersprache verriet, daß er dieser Aufforderung nachkommen wollte. Der Maestro bemerkte eine Bewegung, die in den Beinen begann und von dort aus in Oberkörper und Hals überging. Doch bevor sich der Kopf drehte und Sartoris Gesicht sich ihm zeigte, hörte Gentle ein Geräusch, wandte sich halb um - und beobachtete, wie der tote Godolphin vom Galgen fiel. Er sah noch die Oviaten in der Leiche - und dann war Oscar schon dicht bei ihm. Eigentlich hätte es ganz einfach sein sollen, dem verwesenden Leib auszuweichen, doch die kleinen Wesen beschränkten sich nicht darauf, Nester in ihm zu bauen: Sie fraßen sich durch seine Muskeln und bewirkten jene Wiederauferstehung, die Sartori von Gentle verlangt hatte. Die Arme des Toten packten den Rekonzilianten; das Gewicht des Leichnams und der Parasiten darin zwangen ihn auf die Knie.
    Der Atem zischte als harmlose Luft von seinen Lippen, und unmittelbar darauf wurden ihm die Arme auf den Rücken gedreht, was ihm die Möglichkeit nahm, mit der Hand ein Pneuma einzufangen.
    »Man sollte einem Toten nie den Rücken zuwenden«, sagte Sartori. Erst jetzt wandte er ihm das Gesicht zu.
    Kein Triumph lag darin, obgleich es ihm gelungen war, seinen Gegner mit einem Trick außer Gefecht zu setzen.
    Kummervoll sah er die Oviaten an, die Godolphins Galgen gebildet hatten, und beschrieb mit dem Daumen der linken Hand einen kleinen Kreis. Die winzigen Geschöpfe verstanden sofort, und es kam Bewegung in die von ihnen geformte Wolke.
    »Ich bin abergläubischer als du, Bruder«, fügte Sartori hinzu, streckte die Hand aus und kippte den Stuhl. Er fiel, blieb jedoch nicht liegen, sondern rutschte weiter, schien plötzlich ein eigenes Leben zu entwickeln. »Ich werde dich nicht anrühren - falls ein Brudermörder doch mit unangenehmen Konsequenzen rechnen muß.« Er hob leere Hände. »Sieh nur, 105
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    ich bin ohne Schuld.« Er trat zurück und näherte sich den Vorhängen an den Fenstern. »Du fällst dem Chaos in der Welt zum Opfer.«
    Unterdessen entfalteten die Oviaten intensivere Aktivitäten und waren einmal mehr bestrebt, ihrem Herrn zu gehorchen.
    Von den einzelnen Wesen ging keine Gefahr aus, aber wenn sie sich zu einem großen Schwarm vereinten, bekamen sie etwas Alptraumhaftes. Die Wolke drehte sich immer schneller und erzeugte dadurch einen Sog, stark genug, um Sartoris Stuhl emporzureißen. Kerzenhalter lösten sich aus den Wänden, begleitet von Mörtelfladen. Kurz darauf gesellten sich die Türklinken hinzu, ebenso wie die restlichen Stühle - sie stießen immer wieder gegeneinander, splitterten und zerbrachen. Selbst der schwere Tisch bewegte sich nun. Gentle versuchte, sich aus Godolphins Umklammerung zu befreien, und vielleicht wäre es ihm auch gelungen - doch der tödliche Sturm kam zu schnell näher. Er konnte sich nicht vor ihm schützen, mußte sich damit begnügen, den Kopf zu senken. Holz, Mörtel und Glas hagelten auf ihn herab und preßten ihm die Luft aus den Lungen. Nur einmal hob er den Blick, um durch das Tosen Sartori zu sehen.
    Sein Bruder stand an der gegenüberliegenden Wand und beobachtete die Hinrichtung. Tatsächlich schien er Anstoß an dem aktuellen Geschehen zu nehmen und wirkte wie ein Lamm, das beobachten mußte, wie man einen Artgenossen schlachtete.
    Allem Anschein nach hörte er nicht die im Flur

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