Imagica
Worte habe ich in Yzordderrex an dich gerichtet. Trotzdem hast du versucht, mich umzubringen.«
»Aus gutem Grund.«
»Nenn ihn mir.«
»Durch deine Schuld schlug der erste Rekonziliationsversuch fehl.«
»Es war nicht der erste. Ich weiß von mindestens drei anderen.«
»Es war mein erster Versuch. Mein großes Werk - und du hast es ruiniert.«
»Wer behauptet das?«
»Lucius Cobbitt.«
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Sartori schwieg, und Gentle glaubte zu hören, wie sich die Dunkelheit bewegte: Es klang wie Seide, die über Seide glitt.
Aber seit einiger Zeit herrschte in seinem Kopf nie völlige Stille, und der Mann auf der anderen Seite des Tisches erholte sich von der Überraschung, bevor Gentle das Flüstern deuten konnte.
»Lucius lebt also?«
»Nur in meiner Erinnerung«, sagte Gentle. »Im Haus an der Gamut Street.«
»Der Blödmann namens Dunkles Loch scheint dich mit Informationen regelrecht vollgestopft zu haben. Dafür mache ich ihn zur Schnecke.« Sartori seufzte. »Ich vermisse Rosengarten. Er war immer loyal. Und Racidio. Und Mattalaus. Ich hatte einige gute Leute in Yzordderrex. Leute, denen ich vertrauen konnte, die mich liebten. Vielleicht liegt es an deinem Gesicht? Es gefällt den Leuten, weckt Sympathie und Ergebenheit in ihnen. Das ist dir bestimmt aufgefallen.
Handelt es sich um etwas Heiliges in dir? Oder betrifft es nur die Art unseres Lächelns? Ich lehne die Vorstellung ab, das eine sei eine notwendige Folge des anderen. Bucklige haben durchaus das Potential, zu Heiligen zu werden. Und hinter Schönheit kann sich Teufliches verbergen. Teilst du diese Ansicht?«
»Ja.«
»Na bitte - wir sind nicht von Kontroversen getrennt. Hier sitzen wir im Dunkeln und sprechen in aller Ruhe. Ich glaube fast: Würden wir nie ins Licht zurückkehren und uns für immer der Finsternis hingeben, dann könnten wir nach einer Weile zu echten Freunden werden.«
»Das ist nicht möglich.«
»Warum nicht?«
»Weil ich eine Aufgabe zu erfüllen habe. Und weil ich keine Zeit vergeuden darf.«
»Beim letztenmal hast du eine regelrechte Apokalypse 1043
heraufbeschworen, Maestro. Erinnerst du dich? Denk daran zurück. Betrachte die Bilder vor deinem inneren Auge. Sieh noch einmal, wie sich das In Ovo öffnet, wie Entsetzen in die Domänen strömt...«
Der Klang von Sartoris Stimme deutete daraufhin, daß der ehemalige Herrscher von Yzordderrex aufgestanden war. Doch angesichts der Dunkelheit fiel es Gentle schwer, sich dessen sicher zu sein. Er erhob sich ebenfalls, und hinter ihm kippte der Stuhl um.
»Das In Ovo ist gräßlich«, fuhr Sartori fort. »Und glaub mir: Ich möchte nicht, daß sich sein Grauen in dieser Domäne ausbreitet. Aber vielleicht läßt sich das nicht vermeiden.«
Jetzt zweifelte der Maestro kaum mehr daran, daß irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Sartoris Stimme schien aus mehreren Richtungen zu kommen, schien aus dem gesamten Gefüge der Schwärze zu ertönen.
»Wenn du diesen Raum verläßt, Bruder, wenn du dich von mir abwendest..., dann sucht unvorstellbares Unheil die Fünfte Domäne heim.«
»Diesmal unterlaufen mir keine Fehler.«
»Wer hat etwas von Fehlern gesagt?« erwiderte Sartori. »Ich spreche von Maßnahmen, die ich um der Gerechtigkeit willen ergreifen werde, wenn du mich im Stich läßt.«
»Begleite mich«, schlug Gentle vor.
»Als was? Etwa als dein gehorsamer Jünger? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein! Ich habe ebensoviel Recht wie du, Messias genannt zu werden. Warum sollte ich mich mit der Rolle des demütigen Akoluthen begnügen? Bitte sei so freundlich, mir das zu erklären.«
»Willst du mich dazu zwingen, dich umzubringen?«
entgegnete Gentle.
»Versuch's nur.«
»Dazu bin ich durchaus bereit, Bruder. Wenn ich keinen anderen Ausweg sehe.«
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»Vielleicht erlebst du dann eine Überraschung.«
Gentle hielt es für sinnlos, die Diskussion fortzusetzen.
Wenn er sein anderes Selbst töten mußte - und darauf lief alles hinaus -, so wollte er diese unangenehme Pflicht so schnell wie möglich erledigen. Doch dazu brauchte er Licht. Er wandte sich der Tür zu, mit der Absicht, sie zu öffnen, doch plötzlich fühlte er eine Berührung an der Wange. Er hob die Hände, um das Etwas fortzustoßen, aber es befand sich schon nicht mehr in der Nähe. Welche Bedeutung verbarg sich in dem kurzen Kontakt? Er hatte zuvor keine andere lebende Präsenz im Zimmer gespürt, abgesehen von Sartori. Die Dunkelheit war neutral und inaktiv gewesen. Entweder
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