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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Erlebnis hinter mir, und es hat mir 105
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    nicht geschadet«, ließ sich Montag vernehmen. »Schließ einfach die Augen und denk an England.«
    Diese Bemerkung veranlaßte Clem zu einem leisen Lachen.
    Er starrte noch immer ins Licht, als Jude jene Worte formulierte, die den letzten Zweifel ausräumten:
    »Du hast ihn geliebt.«
    Das Lachen verklang abrupt, und einige Sekunden lang herrschte Stille. Dann murmelte Clem:
    »Ich liebe ihn noch immer.«
    »Jetzt könnt ihr wieder zusammen sein.«
    Noch einmal sah er Judith an und lächelte. Dann gab er sich einen Ruck und trat ins Licht.
    Es bot sich kein spektakulärer Anblick dar. Jude beobachtete nur einen Mann, der durch eine offene Tür ging und den Sonnenschein erreichte. Gleichzeitig spürte sie aber die profunde Bedeutung dieses Augenblicks und erinnerte sich an Oscars Warnung, als sie letzte Vorbereitungen für die Reise nach Yzordderrex getroffen hatte. Sie würde verändert zurückkehren, prophezeite er ihr, und die Welt mit anderen Augen sehen, aus einer neuen Perspektive. Jetzt hatte sie den Beweis dafür. Vielleicht war Sonnenschein schon immer mehr gewesen als nur Licht; und vielleicht boten Türen nicht nur die Möglichkeit, von einem Zimmer ins nächste zu gehen. Doch das andere Potential wurde Judith erst jetzt klar.
    Etwa eine halbe Minute lang stand Clem im Licht und hielt dabei die Hände so, daß ihre Innenflächen nach oben zeigten.
    Schließlich drehte er sich um, und Jude sah, daß Taylor bei ihm weilte. Sie hätte nicht erklären können, wo sie seine Präsenz bemerkte: Es gab keine Veränderungen in der Physiognomie, keine Besonderheiten, die auf Tay hinwiesen; wenn solche Anzeichen existierten, so waren sie zu subtil, um von Judith gedeutet zu werden: vielleicht die Art und Weise, wie sich der Kopf ein wenig zur Seite neigte; oder ein kurzes Zucken in den Mundwinkeln. Trotzdem wußte sie um Taylors Gegenwart.
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    Und sie fühlte ein seltsames Drängen, das sie kurz vorher nicht bei Clem wahrgenommen hatte.
    »Bringt Celestine fort«, forderte er Jude und Montag auf.
    »Oben geschieht etwas Schreckliches.«
    Er wandte sich von der Tür ab und eilte zur Treppe.
    »Benötigst du Hilfe?« fragte Judith.
    »Nein. Bleib bei ihr. Sie braucht dich.«
    Daraufhin sprach Celestine die ersten Worte, seit sie ihren Kerker verlassen hatte:
    »Ich brauche sie nicht.«
    Clem wirbelte um die eigene Achse, trat auf die Befreite zu und blieb so dicht vor ihr stehen, daß sich fast ihre Nasenspitzen berührten.
    »Es fällt mir immer schwerer, dich zu mögen, Teuerste«, sagte er scharf.
    Judith lachte laut, als sie Taylors gereizt klingende Stimme hörte. Die Unterschiede zwischen den beiden Männern hatte sie ganz vergessen: hier der eher sanfte Clem, und dort ein Taylor, der vor seiner Krankheit sehr energisch gewesen war.
    »Hast du vergessen, warum wir hier sind?« fuhr Tay fort.
    »Wegen dir! Und wenn Judy nicht gewesen wäre, lägst du noch immer unten in der dunklen Kammer.«
    Celestine kniff die Augen zusammen. »Weshalb bringst du mich nicht dorthin zurück?«
    »Oh, wenn's nach mir ginge...«, erwiderte Tay. Judith hielt unwillkürlich den Atem an. Er war doch nicht etwa fähig...?
    »Wenn's nach mir ginge, gäbe ich dir einen dicken Kuß und würde dich bitten, kein zänkisches altes Weib zu sein.« Er hauchte ihr einen Kuß auf die Nase. »Und jetzt - bringt sie nach draußen.« Er lief zur Treppe, bevor Celestine Gelegenheit bekam, etwas zu erwidern.
    Der emotionale Schmerz erschöpfte Sartori, er drehte sich um und kehrte zu dem Stuhl zurück, auf dem er während des Gesprächs mit Gentle gesessen hatte. Dabei trat er wie 105
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    beiläufig nach den kleinen Oviaten, die gekommen waren, um seinem Willen zu genügen, betrachtete Godolphins Leiche und stieß sie an. Der Körper schwang hin und her, verwehrte in regelmäßigen Abständen den Blick auf ihn. Er setzte den Weg zu seinem kleinen Thron fort, und dort empfing ihn eine sykophantische Horde aus dämonischen Wesen. Gentle wollte nicht warten, bis sein anderes Selbst jenen Geschöpfen befahl, ihn anzugreifen. Zwar hatte Sartori gerade seiner eigenen Verzweiflung Ausdruck verliehen, aber deswegen war er nicht weniger gefährlich; er wußte, daß es keinen Frieden zwischen ihnen geben konnte. Und Gentle teilte sein Wissen. Die Konfrontation mußte mit dem Tod des ehemaligen Autokraten enden, wenn der ›Teufel‹ nicht erneut das große Werk in Gefahr bringen sollte. Der Maestro holte Luft,

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