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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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nur.
    »Du bist gut dran. Heim und Himmel sind bei dir miteinander identisch.«
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    »Vielleicht gilt das für uns alle«, murmelte Gentle.
    »Ich bezweifle es.«
    Stille folgte, nur unterbrochen von Montags kläglichem Versuch, draußen eine Melodie zu pfeifen. Schließlich sagte Judith:
    »Jetzt verstehe ich, warum du so sehr bemüht bist, alles in Ordnung zu bringen. Du kümmerst dich um die Angelegenheiten deines Vaters.«
    »So habe ich das bisher noch nicht gesehen...«
    »Aber es stimmt.«
    »Vielleicht. Ich hoffe nur, daß ich der Verantwortung gewachsen bin. In der einen Sekunde habe ich den Eindruck, daß ich es schaffen kann. In der nächsten...«
    Eine Zeitlang sah Gentle Judith stumm an, während sich Montag erneut an der Melodie versuchte.
    »Was denkst du?« fragte er.
    »Ich habe gerade gedacht: Hätte ich doch nur seine Liebesbriefe aufbewahrt«, antwortete Jude.
    Wieder schloß sich eine Stille an, die Unbehagen bereitete.
    Nach einigen Sekunden wandte sich Judith um und schritt zum rückwärtigen Bereich des Hauses. Gentle verharrte an der Treppe und sah ihr nach. Es wäre sicher besser gewesen, sie zu begleiten, falls ihr irgendwo Sartoris Diener auflauerte, aber unter den derzeitigen Umständen mochte sie zuviel Aufmerksamkeit seinerseits als Belastung empfinden. Er blickte zur offenen Eingangstür. Sonnenschein glänzte dort und versprach rasche Hilfe, falls Judith in Schwierigkeiten geriet.
    »Wie ist es draußen?« rief er Montag zu.
    »Heiß«, erwiderte der Junge. »Clem holt etwas zu essen.
    Und Bier. Jede Menge Bier. Wir sollten eine Party veranstalten, Boß. Wir haben sie verdient, wie?«
    »Ja. Was ist mit Celestine?«
    »Sie schläft. Können wir jetzt ins Haus?«
    »Noch nicht«, sagte Gentle. »Ich schlage vor, du pfeifst auch 106
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    weiterhin. Irgendwann erkenne ich vielleicht eine Melodie darin.«
    Montag lachte und verursachte damit ein Geräusch, das Gentle gefiel - es klang vertraut, doch an diesem Ort war es so exotisch wie das durch die Ozeane hallende Lied eines Wals.
    Dies ist ein Tag der Wunder, dachte der Maestro. Wenn sich Dunkles Loch noch immer irgendwo im Haus verbirgt, so kann uns seine Boshaftigkeit nichts anhaben. Zufrieden drehte er sich um, stieg die Stufen hoch und fragte sich unterwegs, ob das Tageslicht alle Erinnerungen verscheucht hatte. Das war nicht der Fall, wie er auf halbem Weg zum Obergeschoß erfuhr. Neben ihm erschien die imaginäre Gestalt von Lucius Cobbitt: Tränen in den Augen, Verzweiflung im Gesicht, voller Sehnsucht nach Wissen. Wenige Sekunden später vernahm Gentle die eigene Stimme und hörte noch einmal den Rat, den er Lucius in jener letzten, schrecklichen Nacht gegeben hatte.
    »Erwirb neues Wissen in dem Bewußtsein, daß es längst in dir weilt. Wenn du etwas verehrst...«
    Bevor der Maestro den zweiten Satz beenden konnte, setzte eine oben ertönende, wohlklingende Stimme das Zitat fort.
    »...so stell dabei eine direkte Beziehung zu deinem wahren Selbst her. Und fürchte nicht...«
    Lucius Cobbitts Phantom verblaßte, als Gentle weiter nach oben stieg, doch die Stimme wurde lauter.
    »...es sei denn in der Gewißheit, daß du der Schöpfer deines Feindes bist und seine einzige Chance für Heilung.«
    Gentle begriff plötzlich, daß diese Weisheit gar nicht von ihm selbst stammte, sondern vom Mystif. Die Tür des Meditationszimmers stand offen - Pie saß auf der Schwelle und lächelte aus der Vergangenheit herüber.
    »Wann hast du das erfunden?« fragte der Rekonziliant.
    »Ich habe es nicht erfunden, sondern gelernt«, erwiderte der Mystif. »Von meiner Mutter. Und sie lernte es von ihrer Mutter. Oder von ihrem Vater - wer weiß? Jetzt kannst du es 1067

    weitergeben.«
    »Und was bin ich?« fragte Gentle. »Dein Sohn oder deine Tochter?«
    Pie wirkte beschämt. »Du bist mein Maestro«, sagte er.
    »Und das ist alles? Sind wir wieder - oder noch immer - Herr und Diener? Sag so etwas nicht.«
    »Was soll ich sagen?«
    »Beschreib mir deine Gefühle.«
    »Oh...« Der Mystif lächelte. »Es würde einen ganzen Tag dauern, dir von meinen Empfindungen zu erzählen.«
    Das schelmische Blitzen in Pies Augen war so reizend und entzückend, daß Gentle nur mit großer Mühe der Versuchung widerstand, seinen Freund zu küssen. Aber er mußte eine wichtige Aufgabe erfüllen, sich um die ›Angelegenheiten seines Vaters‹ kümmern, wie es Jude genannt hatte. Allen anderen Dingen kam untergeordnete Bedeutung zu. Wenn Dunkles Loch aus dem

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