Imagica
das war bestimmt der Fall -, so unternahm sie nichts, um ihr Linderung zu verschaffen. Statt dessen faltete sie ihr Existenzsymbol in die Matrix zurück, und dadurch fiel Jude wie ein Blütenblatt von einem blühenden Baum. Sie blieb leicht und schwebte, aber trotzdem brannte heißer Tren-1167
nungsschmerz in ihr. Unten warteten noch immer die veränderten Gestalten der anderen Frauen, die sie unterwegs berührt hatte; sie waren einem ständigen ästhetischen Wandel ausgesetzt. Außerdem ertönte noch immer die Wassermusik an der Tür. Doch dieser spezielle Balsam genügte nicht, um Jude von ihrem Leid zu befreien. Zu Anfang hatten die Melodien fröhlich geklungen, und jetzt brachten sie etwas Elegisches zum Ausdruck, wie Lieder bei einem Erntefest: einerseits Dank für erhaltene Gaben und andererseits Furcht vor der kalten Jahreszeit.
Jene kalte Jahreszeit wartete auf der anderen Seite des Vorhangs aus Wasser. Noch immer lachten die spielenden Kinder, und der See beeindruckte nach wie vor mit verblüffender Pracht. Aber Judith hatte die Gegenwart der Liebe aufgeben müssen, und deshalb schwamm der Kern ihres Selbst in Kummer. Ihre Tränen erstaunten die Frauen vor dem Portal, und einige von ihnen näherten sich, um sie zu trösten.
Aber Jude schüttelte den Kopf, winkte sie fort und ging allein zum Ufer. Dort setzte sie sich in den Sand und wagte nicht, zum Tempel zurückzusehen, wo man nun über ihr Schicksal befand. Traurig und nachdenklich blickte sie über die weite Wasserfläche.
Was nun? überlegte sie. Wenn sie in die Präsenz der Göttinnen zurückgerufen wurde, um zu erfahren, daß man sie nicht für geeignet hielt, um über die Rekonziliation zu entscheiden... Einen solchen Urteilsspruch hätte sie nicht beklagt. Ganz im Gegenteil. Er würde es ihr ermöglichen, die schwere Bürde der Verantwortung abzustreifen, in die Korridore und Flure am Rand des Sees zurückzukehren und dort ein neues Leben zu beginnen. Vielleicht bot sich ihr irgendwann Gelegenheit, noch einmal den Tempel aufzusuchen, als Novizin, die bereit war zu lernen, wie man mit Licht spielte. Und wenn man sie ignorierte, wie es Jokalaylau vorzuziehen schien? Wenn man sie in die Ödnis verbannte?
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Welchen Weg sollte sie dann beschreiten? Sie fühlte sich verloren ohne jemanden, der ihre Schritte lenkte, der ihr mit Informationen bei der Entscheidung half, welche Richtung es einzuschlagen galt. Irgendwann trockneten Judiths Tränen, doch etwas Schlimmeres ersetzte sie: eine Verzweiflung, die direkt aus der Hölle zu kommen schien, oder von einem ähnlich unheilvollen Ort. Diese Art von Verzagtheit diente wohl dazu, Frauen zu bestrafen, die maßlos geliebt hatten, die ihre Vollkommenheit aus Mangel an ein wenig Scham verloren.
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KAPITEL 56
Roxborough, die Geißel der Maestros, schrieb den letzten Brief an seinen Sohn kurz bevor er an Bord eines Schiffes ging, das ihn nach Frankreich bringen sollte - dort wollte er das Evangelium der Tabula Rasa verbreiten. In jenem Schreiben hielt er die Substanz des Alptraums fest, aus dem er gerade erwacht war.
Ich träumte, daß ich mit meiner Kutsche durch die gräßlichen Straßen von Clerkenwell fuhr, hieß es in dem Brief.
Das Ziel brauche ich hier wohl nicht zu nennen. Du kennst es, und Du weißt auch, wieviel Schändliches dort geplant wurde.
Ich konnte das Geschehen nicht beeinflussen: Mehrmals forderte ich den Kutscher auf, um meiner Seele willen umzukehren, mich nicht zu jenem Haus zu bringen, aber er schenkte diesem Flehen überhaupt keine Beachtung. Als die Kutsche um die letzte Ecke rollte und Maestro Sartoris Haus in Sicht geriet, bäumte sich Bellamare erschrocken auf und bockte. Ich mag die Stute sehr, und ihre Weigerung, sich dem Haus zu nähern, erfüllte mich mit solcher Erleichterung, daß ich ausstieg, um ihr meinen Dank ins Ohr zu flüstern.
Und siehe: Als meine Füße den Boden berührten, sprach das Kopfsteinpflaster wie ein lebendes Geschöpf zu mir und stimmte ein lautes Jammern an. Damit nicht genug: Die Ziegelsteine der nahen Häuser, die Dächer, Balkone und Kamine - alle wiederholten das Klagen, vereinten ihre Stimmen zu einem mitleiderweckenden Lamentieren, das dem Himmel galt. Nie zuvor habe ich einen solchen Lärm gehört, und ich konnte ihm nicht entfliehen - immerhin trug ich einen Teil der Schuld an diesem Schmerz. Folgende Worte hörte ich: Herr, ungetauft sind wir, und deshalb gibt es keine Hoffnung für uns, einen Platz in Deinem Himmelreich zu
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