Imagica
sprintete er über die Stufen. Unten begegnete er Clem und hörte von ihm, daß alle Zimmer im Erdgeschoß leer seien. Er begnügte sich mit einem knappen Nicken und lief weiter, durch den Flur zur Tür.
Montag hatte stundenlang mit Kreidestiften gearbeitet, und auf dem Pflaster vor den Stufen zeigten sich die Ergebnisse seiner Bemühungen. Diesmal waren es keine Kopien von 118
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Glamourgirls, sondern komplexe Abstraktionen; sie reichten über die Bordsteinkante hinaus auf den heißen, weichen Asphalt. Der Künstler malte nun nicht mehr - er stand mitten auf der Straße und nahm eine Haltung ein, deren Bedeutung Gentle sofort erkannte: den Kopf nach hinten geneigt, die Augen geschlossen - badete er in der Luft.
»Montag!«
Der Junge rührte sich nicht und fuhr damit fort, diese spezielle Salbung zu genießen. Das Wasser rann ihm über den Kopf, tastete wie mit silbrigen Fingern durchs kurze Haar und zum Gesicht hinab. Vielleicht hätte Montag bis zum Ertrinken gebadet, doch Gentle eilte auf ihn zu und vertrieb die Göttin.
Innerhalb eines Sekundenbruchteils verschwand das Naß, und der Junge öffnete die Augen. Er blinzelte im hellen Sonnenschein, und sein Lächeln verblaßte.
»Warum regnet es nicht mehr?« fragte er.
»Es hat nie geregnet.«
»Und was ist das hier, Boß?« Montag streckte die Arme aus; Wasser tropfte von ihnen herab.
»Glaub mir - es war kein Regen.«
»Was auch immer es gewesen sein mag: Mir hat's gefallen.«
Er' zog das nasse T-Shirt aus und wischte sich damit die Wangen ab. »Ist alles in Ordnung mit dir, Boß?«
Gentle blickte über die Straße hinweg und hielt nach der Göttin Ausschau.
»Ja, ich denke schon«, entgegnete er. »Nun, mach dich wieder an die Arbeit. Die Tür muß noch von dir geschmückt werden.«
»An was für ein Motiv hast du dabei gedacht?«
»Du bist der Maler«, sagte Gentle geistesabwesend - die Straße lenkte ihn von dem Gespräch mit Montag ab.
Erst jetzt wurde ihm klar, wie viele Präsenzen die Gamut Street angelockt hatte. Ihr Aufenthalt beschränkte sich nicht nur auf die Straße; wie Erhängte schwebten sie zwischen den 1181
verdorrenden Blättern der Bäume oder hockten auf Dachvorsprüngen. Sie waren keineswegs in die Aura von Feindseligkeit gehüllt; es gab sogar guten Grund für sie, dem Rekonzilianten alles Gute zu wünschen. Gentle erinnerte sich: Vor einem halben Jahr, am letzten Abend vor dem Beginn der langen Reise durch Imagica, hatte Pie deutlich auf das Leid der ruhelosen Seelen in allen Domänen hingewiesen. Er meinte, sie seien nicht glücklich und warteten vor verschlossenen Türen, ohne eine Möglichkeit, ihren Bestimmungsort zu erreichen.
In jenen Worten war auch eine leise Hoffnung zum Ausdruck gekommen. Es gab eine Lösung für dieses Problem, und Pie'oh'pah mußte sie schon damals gekannt haben.
Bestimmt hatte er sich sehr danach gesehnt, Gentle
›Rekonziliant‹ zu nennen und ihm mitzuteilen, daß es an ihm lag, die Türen für die Toten zu öffnen, auf daß sie den Himmel erreichen konnten.
»Habt noch etwas Geduld«, murmelte Gentle und wußte, daß ihn die Geister hörten. »Es dauert nicht mehr lange. Bald hat euer Schmerz ein Ende.«
Die Sonne trocknete das Naß der Göttin in seinem Gesicht; er begrüßte diesen Vorgang, hieß die Hitze willkommen und wanderte fort vom Haus, während Montag vor dem Eingang zu pfeifen begann. Was für ein seltsamer Ort dies geworden ist, dachte der Maestro. Engel im Haus hinter ihm, erotischer Regen auf der Straße, Geister in den Bäumen. Und ich selbst..., fügte er in Gedanken hinzu. Der Rekonziliant, bereit zu einer Zeremonie, die mehrere Welten verändern wird. Ein solcher Tag ist einmalig.
Nach einigen Dutzend Metern ließ sein Optimismus nach -
abgesehen vom Geräusch seiner Schritte und dem schrillen Pfeifen des Jungen herrschte völlige Stille. Eine seltsame Ruhe löste den Lärm des Morgens ab: Es heulten keine Sirenen mehr, und nirgendwo läuteten Glocken. Das Leben außerhalb der Gamut Street schien den Atem anzuhalten. Gentle ging 118
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etwas schneller und fühlte sich dabei von einer Nervosität heimgesucht, die ansteckend zu wirken schien: Die Geister am Ende der Straße waren unruhiger als ihre Artgenossen in der Nähe des Hauses. Dauernd bewegten sie sich, nie verharrten sie; die Vielzahl der Phantome und das Ausmaß ihres Unbehagens genügten, um den Staub im Rinnstein aufzuwirbeln. Sie versuchten nicht, den Maestro aufzuhalten, teilten sich wie ein kühler
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