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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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sie die Augen.
    Gentle reagierte nicht schnell genug; oder vielleicht hinderte ihn etwas daran, den Kopf zu senken. Es kam einem Schock für ihn gleich, als sich ihre Blicke trafen, als seine Mutter das Begehren des Sohnes sah, als ihr Gesicht ebenfalls Verlangen zeigte.
    Mit einem jähen Ruck löste er die Hand aus ihrem Griff, trat zurück und legte sich entschuldigende Worte zurecht. Celestine schien weitaus weniger beschämt zu sein. Sie sah ihn noch immer an und bat ihn mit sanfter, fast flüsternder Stimme, zu ihr in den Regen zurückzukehren. Als er statt dessen den Abstand zwischen ihnen vergrößerte, sprach die Befreite etwas lauter:
    »Die Göttin möchte dich kennenlernen. Um deine Absichten zu verstehen.«
    »Es geht mir um die... Angelegenheiten... meines... Vaters«, sagte Gentle. Dieser Hinweis diente nicht nur als Erklärung, sondern auch zur Verteidigung. Indem er sich an seine Pflichten erinnerte, errichtete er dem Sexuellen gegenüber einer Barriere.
    Doch die vom Regen symbolisierte Göttin gab nicht so leicht auf. Kummer zeigte sich auf Celestines Gesicht, als die Wolke aus Nieselregen sie verließ, um sich dem Sohn zuzuwenden.
    Sie schwebte durch einen Strahl aus Sonnenlicht und formte einen schimmernden Regenbogen.
    »Hab' keine Angst vor Ihr « , sagte Clem hinter dem Rekonzilianten. »Du hast nichts zu verbergen.«
    Das mochte durchaus der Wahrheit entsprechen, aber Gentle 117
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    blieb nicht stehen, sondern wich auch weiterhin zurück, bis er gegen seine beiden Gefährten stieß.
    »Schützt mich«, brachte er mit zitternder Stimme hervor.
    Clem umarmte ihn.
    »Es ist eine Frau, Maestro«, sagte er. »Seid wann fürchtest du dich vor Frauen?«
    »Von Anfang an habe ich mich vor ihnen gefürchtet«, erwiderte Gentle. »Halt mich fest, um Himmels willen.«
    Dann war die Wolke heran. Clem stöhnte voller Wohlbehagen, als der Kontakt erfolgte und ihm Kühle bescherte. Gentle versuchte, sich noch tiefer in die Umarmung zurückzuziehen, doch wenn der Regen imstande war, ihn von Clem fortzuzerren, so ließ er diese Möglichkeit ungenutzt. Die Wolke aus Nässe verharrte etwa dreißig Sekunden lang über den Köpfen der beiden Männer und driftete dann durch die offene Tür. Als sie verschwand, wandte sich Gentle an Clem.
    »Ich habe also nichts zu verbergen, wie?« brummte er.
    »Offenbar hat Sie daran gezweifelt.«
    »Bist du verletzt?«
    »Nein. Sie hat sich nur hier drin umgesehen.« Der Maestro tippte sich an die Stirn. »Meine Güte, warum wollen alle meinen Kopf erforschen?«
    »Vielleicht wegen des ungewöhnlichen Panoramas«, scherzte Taylor und lächelte mit Clems Lippen.
    »Sie wollte nur wissen, ob deine Absichten rein sind, Sohn«, sagte Celestine.
    »Ob meine Absichten rein sind?« wiederholte Gentle und warf seiner Mutter einen finsteren Blick zu. »Welches Recht hat Sie, über mich zu urteilen?«
    »Was du als ›Angelegenheiten deines Vaters‹ bezeichnest, betrifft alle Seelen in Imagica.«
    Das Laken lag nach wie vor auf dem Boden, und die Befreite hob es nicht auf; nackt ging sie auf ihren Sohn zu, der verlegen den Blick senkte.
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    »Bedeck deine Blöße, Mutter«, sagte er. »Bei Gott - bedeck dich.«
    Dann drehte er sich um, eilte in den Flur und folgte der fremden Präsenz.
    »Wer du auch sein magst - verlaß dieses Haus!« rief der Rekonziliant. »Clem, sieh hier unten nach. Ich nehme mir das Obergeschoß vor.«
    Er lief die Treppe hoch, und sein Zorn wuchs, als er sich vorstellte, daß der Geist vielleicht den Meditationsraum aufsuchte.
    Die Tür stand offen, und als Gentle eintrat, sah er Dunkles Loch in einer Ecke.
    »Wo ist Sie?« fragte er scharf. »Befindet Sie sich hier?«
    »Wen meinst du?«
    Gentle antwortete nicht, hastete wie ein Gefangener zwischen den Wänden hin und her und beklopfte sie mit der flachen Hand. In den Mauern plätscherte es nicht, und die Luft enthielt keine sprühartige Feuchtigkeit - dieses Zimmer war von der fremden Präsenz verschont geblieben. Der Maestro nickte zufrieden und eilte zur Tür.
    »Wenn es hier drin zu regnen beginnt...«, wandte er sich an Dunkles Loch. »Dann schreist du Zeter und Mordio.«
    »So laut ich kann.«
    Gentle schlug die Tür zu und durchsuchte auch alle anderen Räume - die Luft in ihnen war knochentrocken. Doch als er zur Treppe zurückkehrte, hörte er Gelächter von der Straße. Es stammte von Montag, und seine Stimme klang unbeschwerter als jemals zuvor. Argwohn erwachte in dem Maestro, und einmal mehr

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