Imagica
drängte danach, der Besucherin gegenüberzutreten. Vielleicht brachte sie eine Botschaft von Jude?
Die Haustür stand offen, und eine kleine Lache aus Bier glitzerte auf der Stufe. Von Montag war nichts zu sehen.
»Wo ist der Junge?« fragte Gentle.
»Draußen, beobachtet den Himmel. Angeblich hat er ein UFO gesehen.«
Der Maestro bedachte seinen Begleiter mit einem verwunderten Blick. Clem schwieg, legte ihm die Hand auf die Schulter und sah dann zum Eßzimmer - dort schluchzte jemand.
»Mutter!« stieß Gentle hervor. Er dachte nicht mehr daran, vorsichtig zu sein und stürmte den Rest der Treppe hinab, 1175
dichtauf gefolgt von Clem.
Als sie Celestines Zimmer erreichten, war wieder alles still.
Der Rekonziliant holte tief Luft, griff nach dem Knauf und drehte ihn. Die Tür schwang sofort auf, und Gentle trat über die Schwelle. Ein düsterer Raum erstreckte sich vor ihm: Die tief durchhängenden und schimmelbesetzten Gardinen an den Fenstern filterten den größten Teil des draußen gleißenden Lichts. Nur einigen wenigen Sonnenstrahlen gelang es, in die Kammer vorzudringen und die Matratze in der Mitte zu erreichen. Doch dort lag niemand mehr. Gentle ließ einen verblüfften Blick durchs Zimmer schweifen, und in einer dunklen Ecke bemerkte er eine Gestalt, die kaum hörbar wimmerte - Celestine. Sie hielt ein Laken in beiden Händen, und als sie ihren Sohn bemerkte, zog sie es sich hoch bis zum Hals. Dann wandte sie sich wieder der Wand zu und beobachtete sie so aufmerksam, als rechnete sie aus jener Richtung mit einer Offenbarung. Gentle vermutete, daß in der Mauer ein Rohr gebrochen war: Er hörte das leise Plätschern und Rauschen von fließendem Wasser.
»Es ist alles in Ordnung, Mutter«, sagte er. »Dir wird kein Leid geschehen.«
Celestine antwortete nicht. Sie hob die linke Hand vors Gesicht und betrachtete sie wie einen Spiegel.
»Der Geist hält sich nach wie vor an diesem Ort auf«, verkündete Clem.
»Wo?« fragte Gentle.
Ein Nicken, das Celestine galt. Der Maestro trat einige Schritte vor, breitete die Arme aus und bot so der Präsenz ein neues Ziel.
»Komm«, sagte er. »Wer oder was du auch bist. Komm!«
Auf halbem Weg zwischen der Tür und seiner Mutter fühlte Gentle kühlen Sprühregen im Gesicht - die Tropfen waren so winzig, daß sie unsichtbar blieben. Er empfand die Berührung nicht als unangenehm. Ganz im Gegenteil: Sie brachte Frische, 117
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und er seufzte unwillkürlich.
»Es regnet hier drin«, stellte er fest.
»Es ist die Göttin«, hauchte Celestine.
Sie sah von ihrer Hand auf. Wasser floß über die Haut, als hätte sich in der Handfläche eine Quelle gebildet.
»Welche Göttin?« erwiderte Gentle.
»Uma Umagammagi.«
»Warum hast du geweint, Mutter?«
»Ich glaubte zu sterben. Ich dachte, Sie sei gekommen, um mich zu holen.«
»Aber das ist nicht der Fall.«
»Ja, ich bin noch immer hier, Sohn.«
»Was brachte Sie hierher?«
Celestine streckte den Arm Gentle entgegen.
»Sie möchte, daß wir Frieden schließen«, sagte sie. »Komm zu mir und fühle mit mir das Wasser.«
Gentle nahm die Hand seiner Mutter; sie zog ihn näher zu sich, neigte dabei den Kopf nach hinten und wandte das Gesicht dem feinen Regen zu. Die letzten Überbleibsel der Tränen wurden fortgewaschen, und ihr Kummer wich Ekstase.
Der Maestro spürte es ebenfalls. Er wollte die Augen schließen, sich ganz der Wonne hingeben, widerstand aber dieser Versuchung und wahrte eine gewisse Distanz zu den Schmeicheleien des Regens. Wenn sich in dem feuchten Schleier eine Nachricht für ihn verbarg, so mußte er sie rasch in Empfang nehmen, bevor noch mehr Zeit vergeudet wurde und die Rekonziliation in Gefahr geriet.
»Warum bist du hierhergekommen?« fragte er, während er an die Seite seiner Mutter trat.
Der Regen antwortete nicht. Zumindest gab er keine für Gentle verständliche Antwort. Doch vielleicht hörte Celestine mehr als er, denn ihre Finger schlossen sich fester um die Hand des Sohnes. Sie ließ das Laken los, damit die Tropfen auch Brüste und Bauch erreichen konnten, und Gentles Blick glitt 1177
über ihren nackten Leib. Er wies noch immer die Narben der Wunden auf, die sie beim Kampf gegen Dowd und Sartori erlitten hatte, doch jeder Makel betonte nur ihre Schönheit. In dem Maestro regten sich Empfindungen, die keinem Sohn gebührten, und er versuchte, sie zu unterdrücken.
Celestines freie Hand wischte mit Daumen und Zeigefinger Feuchtigkeit von den Lidern. Dann öffnete
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