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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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sicher auch darum ging, dem Gedächtnis des Maestros auf die Sprünge zu helfen -, sondern vor allem zum Zwecke komischer, absurder oder melancholischer Unterhaltung. Für gewöhnlich begann er mit den Worten: »Ich kannte da einmal jemand...«
    Manchmal nahmen die Schilderungen nur wenige Minuten in Anspruch, doch Gentle entsann sich daran, daß sich Pie für diese besondere Story viel Zeit genommen hatte. Wort für Wort wiederholte er den Text von Roxboroughs Brief, wodurch sich die Frage ergab: Wieso wußte er überhaupt davon? Bis zum heutigen Tag hatte Gentle keine Antwort darauf gefunden, aber in einem Punkt herrschte seiner Meinung nach kein Zweifel. Er glaubte den Grund zu kennen, der Pie'oh'pah veranlaßt hatte, sich diese Episode einzuprägen und sie nach vielen Jahren dem Maestro feilzubieten. Der Mystif war davon überzeugt gewesen, daß Roxboroughs Traum Bedeutung enthielt, und der Hinweis darauf diente in erster Linie dazu, den Rekonzilianten auf zukünftige Gefahren vorzubereiten.
    Inzwischen war die Zukunft zur Gegenwart geworden. Als nach Montags Rückkehr die Stunden verstrichen, ohne daß Judith etwas von sich hören ließ, begann Gentle in Gedanken damit, Roxboroughs Brief zu analysieren und nach einem Anhaltspunkt dafür zu suchen, welche Gefahren sich eventuell anbahnen könnten. Er fragte sich sogar, ob der Autor jener Zeilen zu den Phantomen gehörte, deren substanzlose Gestalten sich am späten Vormittag im Hitzeflimmern abzeichneten. War Roxborough zurückgekehrt, um das Ende der Straße zu 1173

    beobachten, die er als gräßlich bezeichnet hatte? Wenn das stimmte, wenn er nun als Geist vor der Tür schwebte und wie damals lauschte, so mochte er ebenso enttäuscht sein wie die lebenden Personen im Haus; vielleicht wünschte er sich sogar, daß sie jenes Werk fortsetzten, das eigentlich, nach seiner Vorstellung, göttlichen Zorn herausfordern sollte.
    Ganz gleich, wie viele Zweifel Gentle in Hinsicht auf Judith hegte: Er konnte nicht glauben, daß sie sich gegen sein großes Werk verschworen hatte. Wenn sie die bevorstehende Rekonziliation als ›nicht sicher‹ bezeichnet hatte, so gab es bestimmt gute Gründe dafür. Jede einzelne Zelle im Körper des Maestros protestierte gegen Inaktivität, aber er lehnte es trotzdem ab, nach unten zu gehen und die Steine ins Meditationszimmer zu bringen - aus Furcht davor, daß ihn ihre Präsenz zu sehr in Versuchung führen würde, daß er sich dazu hinreißen ließe, schon jetzt den Kreis zu bilden. Statt dessen übte er sich in Geduld und wartete, und wartete, und wartete, während es draußen immer heißer wurde, während sich im Haus die Atmosphäre der Frustration verdichtete. Scopique hatte recht: Eine so wichtige Sache erforderte Monate der Vorbereitungen, nicht Stunden - und selbst die wenigen Stunden blieben nun ungenutzt. Bis wann konnte er den Beginn der Zeremonie aufschieben? Bis wann durfte er auf eine Nachricht von Judith warten? Bis um sechs Uhr abends? Bis zum Einbruch der Nacht? Gentle wußte es nicht, und seine innere Unruhe nahm immer mehr zu.
    Auch außerhalb des Hauses gab es Anzeichen dafür, daß die allgemeine Anspannung zunahm. Kaum eine Minute verging, ohne daß sich eine weitere Polizeisirene dem Heulen hinzugesellte, das aus allen Richtungen kam. Mehrmals am Morgen erklangen die Glocken naher Kapellen und Kirchen, aber ihr Läuten lud nicht etwa zu Gottesdiensten ein, sondern bedeutete Alarm. Gelegentlich ertönten Schreie in fernen Straßen, hallten durch eine Luft, die so heiß war, daß sogar 117
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    Tote ins Schwitzen gekommen wären.
    Und dann, kurz nach dreizehn Uhr, eilte Clem mit großen Augen die Treppe hoch. Taylor sprach durch seinen Mund, und Aufregung vibrierte in der Stimme.
    »Jemand ist ins Haus gekommen, Gentle.«
    »Wer?«
    »Eine Art Geist aus den Domänen. Ein weibliches Phantom.
    Es befindet sich unten.«
    »Judith?«
    »Nein. Es handelt sich um eine fremde Macht. Kannst du sie riechen? Ich weiß, daß du die Frauen aufgegeben hast, aber deine Nase funktioniert doch noch, oder?«
    Er führte den Maestro zum Treppenabsatz. Stille herrschte im Haus, und Gentle spürte nichts.
    »Wo ist sie?«
    Clem runzelte verwirrt die Stirn. »Eben war sie noch hier, das schwöre ich.«
    Gentle trat zur obersten Stufe, aber Clem hielt ihn zurück.
    »Schutzengel zuerst«, sagte er, doch der Rekonziliant ging bereits die Treppe hinunter und streifte dabei dankbar die Lethargie der vergangenen Stunden ab. Alles in ihm

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