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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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ihrer Netzhaut galt, sondern sich in den Kopf brannte. Das Lodern schuf Furcht in ihr; sie wollte zurückweichen und blieb nur deshalb stehen, weil sie sich den Trost von Uma Umagammagi erhoffte.
    »Göttin?« fragte sie schließlich.
    »Wir sind hier«, erwiderte Umagammagi. »Wir alle sind hier: Jokalaylau, Tishalulle und ich.«
    Als die Namen genannt wurden, bemerkte Judith undeutliche Formen im Glitzern. Es handelte sich nicht um die unerschöpflichen Existenzsymbole, die sie zuvor an diesem Ort gesehen hatte. Was sich nun ihren Blicken darbot, waren keine Abstraktionen, sondern geschmeidige Leiber, die über ihr schwebten. Diesen Wandel hielt Jude für sehr seltsam. Bei ihrem ersten Besuch hatte sie die essentiellen Naturen von Jokalaylau und Uma Umagammagi betrachten können, doch nun sah sie etwas Banales und Weltliches. Das verhieß nichts Gutes. Kleiden Sie sich in Trivialität, weil Sie mich für unwürdig erachten? Judith konzentrierte sich auf den Anblick, um mehr Einzelheiten zu erkennen, aber entweder ließen ihre Augen zu wünschen übrig, oder die Göttinnen trugen eine Art Schleier, der das meiste von ihnen verhüllte. Sie gewann nur einen ungefähren Eindruck - von Nacktheit und einem Glühen, das Hitze mit Wasser vereinte.
    »Siehst du uns?« erklang eine Stimme - Tishalulle, 118
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    vermutete Jude.
    »Ja, natürlich«, erwiderte sie. »Aber ich sehe keine...
    Einzelheiten.«
    »Habe ich es nicht gesagt?« Diese Worte stammten von Uma Umagammagi.
    »Was hast du gesagt?« fragte Judith, bevor sie begriff, daß diese Bemerkung den anderen Göttinnen galt.
    »Erstaunlich«, kommentierte Tishalulle.
    Die Stimme klang weich und verführerisch, und als Jude ihren Blick auf die verschwommene Gestalt fixierte, brachten die Silben etwas mehr visuelle Deutlichkeit. Das Gesicht wirkte asiatisch; Wangen, Lippen und Wimpern waren völlig farblos. Eigentlich hätte etwas Unscheinbares das Ergebnis sein sollen, aber in diesem Fall bestand das Resultat aus subtiler Schönheit. Das in den Augen schimmernde Licht betonte die Symmetrie anmutiger Züge. An Tishalulles Leib sah Judith etwas, das sie zunächst für Tätowierungen hielt, doch als sie die Göttin musterte - ohne dabei auch nur einen Hauch von Unsicherheit zu empfinden -, stellte sie fest, daß sich in jenen Darstellungen etwas bewegte. Sie befanden sich nicht auf der Haut, sondern darin, im Körper: Tausende von kleinen Öffnungen, die rhythmisch pulsierten. Sie bildeten sich in mehreren Regionen, und jede zeichnete sich durch eine eigene Bewegungsstruktur aus. Eine Region begann an den Lenden -
    dort war das Zentrum des Pulsierens -, reichte nach oben, zu den Armen, und glitt bis hin zu den Fingerspitzen. Alle zehn oder fünfzehn Sekunden vereinten sich die Regionen und dann quoll eine Substanz aus den vielen Öffnungen und formte die Göttin neu. Jude beobachtete diese Geschehen verblüfft.
    »Du solltest wissen, daß ich deinem Gentle begegnet bin«, verkünderte Tishalulle. »In der Wiege empfing ich ihn.«
    »Er ist nicht mehr mein Gentle«, erwiderte Judith.
    »Bist du deshalb traurig?«
    »Natürlich trauert sie nicht«, warf Jokalaylau ein. »Sie läßt 1189

    sich von seinem Bruder das Bett wärmen. Den Autokraten meine ich. Den Schlächter von Yzordderrex.«
    Die Frau aus der Fünften wandte sich der Göttin der Schnee-und Eisberge zu. Die Einzelheiten ihrer Gestalt waren noch undeutlicher als bei Tishalulle, doch Jude wollte unbedingt eine Vorstellung von ihrem äußeren Erscheinungsbild gewinnen.
    Sie richtete ihren Blick auf eine Spirale aus kalten Flammen, die in ihrem Zentrum brannten und von denen Feuerbögen ausgingen, die bis zu den Extremitäten von Jokalaylaus Körper reichten. Ein kurzes Flackern ermöglichte es Judith, die erhofften Details zu betrachten. Diese Göttin präsentierte sich ihr als eine erhabene, gebieterische Negerin mit funkelnden Augen und schweren Lidern. Die Unterarme kreuzten sich dicht vor den Handgelenken und führten dann zu sich selbst zurück, so daß die Finger ein Netz bilden konnten. Sie wirkte nicht so schrecklich, wie Judith befürchtet hatte. Doch als die Göttin den Blick der Besucherin auf sich ruhen spürte, reagierte sie mit einer jähen Metamorphose. Falten entstanden in der glatten Haut, fraßen sich immer tiefer; die Augen trockneten in den Höhlen; die Lippen platzten und verschwanden. Würmer fraßen die Zunge zwischen den Zähnen.
    Jude stieß einen Schrei des Abscheus aus, und von einer

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