Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
Vorhang und erlaubten es ihm, die unsichtbare Grenze der Gamut Street zu passieren. Er sah in beide Richtungen. Vor einer Weile hatten sich hier Hunde versammelt, doch nun fehlte jede Spur von ihnen. Es saßen auch keine Vögel auf Giebeln oder Telefondrähten. Er blieb stehen, ignorierte das Rauschen und Zischen in seinem Kopf, lauschte nach irgendwelchen Anzeichen von Leben: das Brummen von Motoren, vielleicht ein Ruf. Doch die Stille dauerte an. Das Gefühl der Beklemmung wurde immer intensiver, und er sah zur Gamut Street zurück. Es widerstrebte ihm, die Straße noch weiter hinter sich zurückzulassen, aber wahrscheinlich entstanden dadurch keine Gefahren, solange die Geister dort verweilten. Zwar mangelte es ihnen an der notwendigen Substanz, um einen Angriff abzuwehren, aber vermutlich wagte es niemand, sich während ihrer Anwesenheit dem Haus zu nähern. Diese Überlegungen beruhigten Gentle ein wenig, und er lenkte seine Schritte in Richtung Gray's Inn Road.
    Schon nach kurzer Zeit ging er nicht mehr, sondern lief, und die Hitze verwandelte sich in eine Belastung. Sie sorgte dafür, daß die Beine immer schwerer wurden, daß ihm die Lungen brannten. Aber Gentle gönnte sich erst eine Verschnaufpause, als er die Kreuzung erreichte. Gray's Inn Road und High Holborn waren zwei der wichtigsten Durchgangsstraßen von London: Selbst in einer besonders kalten und finsteren Winternacht hätte er damit rechnen können, hier Verkehr anzutreffen. Jetzt erstreckte sich nur leerer Asphalt vor ihm.
    Auch in diesem Bereich regierte Stille und schluckte alle 1183

    Geräusche, die von anderen Straßen und Plätzen herüberwehen mochten. Jene Einflußsphäre, die Gamut Street seit zwei Jahrhunderten von Veränderung schützte, hatte sich ausgedehnt, hielt Neugierige und Unwissende fern.
    Das allgemeine Schweigen konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß etwas in der Luft lag, und dieses Etwas hielt Gentle zunächst davon ab, zur Gamut Street zurückzukehren.
    Ein subtiler Geruch stieg in seine Nase: Er verlor sich fast im Gestank des heißen Asphalts und war gleichzeitig so einzigartig, daß ihn der Maestro bemerken mußte. Er zögerte an der Ecke, wartete auf eine leichte Brise und schnupperte.
    Dieses widerliche Aroma konnte nur einen Ursprung haben, und ein einziger Mann in der Stadt - in der ganzen Domäne -
    hatte Zugang zu jener Quelle. Erneut war das In Ovo geöffnet worden, und diesmal hatte Sartori keine niederen Wesen beschworen, so wie im Turm. Nein, jetzt näherten sich Geschöpfe von einem ganz anderen Kaliber. Gentle hatte sie schon einmal gesehen und gerochen, vor zweihundert Jahren, als sie Chaos, Entsetzen und Tod brachten. Der eher schwache Wind ließ den Schluß zu, daß der Geruch nicht aus der Ferne kam, von Highgate - der ehemalige Autokrat und seine Legion waren viel näher. Vielleicht betrug die Entfernung weniger als zehn Straßen. Und sie mochte sogar noch geringer sein: Vielleicht kam die Horde des Schreckens gleich um die nächste Ecke der Gray's Inn Road...
    Es durfte nicht noch mehr Zeit mit Warten vergeudet werden. Welche Gefahren auch immer Jude entdeckt hatte oder entdeckt zu haben glaubte - sie blieben imaginärer Natur. Es gab nur eine Schlußfolgerung, die sich aus diesem Geruch und den Entitäten, die ihn verursachten, ergab - Gentle mußte sofort mit den letzten Vorbereitungen beginnen. Er gab seinen Beobachtungsposten auf und kehrte so schnell zum Haus zu-rück, als sei ihm die Horde auf den Fersen. In der Gamut Street stob die Menge der Geister vor ihm auseinander. Montag 118
    4

    arbeitete an der Tür, legte die Farben jedoch beiseite, als er die Stimme des Maestros hörte.
    »Es ist soweit, Junge!« rief Gentle und sprang die Stufen vor dem Haus hoch. »Bring die Steine nach oben.«
    »Fangen wir an?«
    »Ja, wir fangen an.«
    Montag lächelte und eilte ins Haus. Gentle verharrte vor der Schwelle und betrachtete das, was nun die Tür zierte. Es handelte sich zwar nur um eine Skizze, doch sie brachte bereits das zeichnerische Können des Jungen zum Ausdruck. Er hatte ein riesiges Auge gemalt, und Lichtstrahlen gingen davon aus, glänzten in alle Richtungen. Der Maestro betrat das Haus und fand Gefallen an der Vorstellung, daß der brennende Blick alle begrüßen würde, die sich dem Gebäude näherten, ob Freund oder Feind. Dann schloß er die Tür und verriegelte sie. Wenn ich mich wieder nach draußen begebe, ist das Werk meines Vaters vollbracht, dachte er.
    1185

    KAPITEL

Weitere Kostenlose Bücher