Imagica
entschieden, hierher zurückzukehren. Er ist der Grund.«
»Ich habe nur eine Botschaft überbracht und kann keinen Anspruch mehr auf Gentle erheben.«
»Ihn meine ich nicht...«
»Ich verstehe.«
»Ich meine...«
»Ja, ich weiß, wen du meinst.«
»Erträgst du es nicht, seinen Namen zu hören?«
Celestine hatte bisher ins Licht der Kerze gesehen, doch nun richtete sie ihren Blick auf Judith.
»Was willst du nach seinem Tod machen?« fragte sie. »Er wird sterben - das ist dir doch klar, oder? Gentle möchte ein großzügiger Sieger sein und seinem Bruder alles verzeihen.
Aber er hat einfach zuviel Schuld auf sich geladen; man wird seinen Kopf verlangen.«
Bisher hatte Judith noch nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Sartori ums Leben kommen könnte. Selbst im Turm, als 1209
Gentle seinen Bruder verfolgt hatte, um ihn daran zu hindern, noch mehr Unheil zu stiften, war sie nicht bereit gewesen, den Tod des Autokraten in Erwägung zu ziehen. Doch Celestine hatte zweifellos recht. Es gab sowohl weltlichen als auch göttlichen Anspruch auf Rache und Vergeltung. Selbst wenn Gentle bereit sein mochte, Sartori zu verzeihen - Jokalaylau forderte bestimmt Gerechtigkeit, ebenso wie der Unerblickte.
»Viele Ähnlichkeiten verbinden euch«, behauptete Celestine.
»Ihr seid Kopien besserer Originale.«
»Du hast Quaisoir nie gekannt«, sagte Judith. »Daher kannst du gar nicht wissen, ob sie besser war.«
»Kopien sind immer schlechter; es liegt in ihrer Natur. Aber wenigstens sind deine Instinkte in Ordnung. Ihr gehört zusammen. Sartori und du - ein feines Paar. Deshalb steckst du so voller Kummer, nicht wahr? Gib es ruhig zu.«
»Warum sollte ich dir mein Herz ausschütten?«
»Deshalb bist du doch hier, oder? Weil du dort draußen kein Mitgefühl bekommen hast.«
»Lauschst du manchmal an der Tür?«
»Seit man mich hierherbrachte, habe ich alles gehört. Oder gefühlt. Oder prophezeit.«
»Zum Beispiel?«
»Nun, der Junge namens Montag wird das Mädchen aus Yzordderrex entjungfern.«
»Man braucht keine hellseherischen Fähigkeiten, um das zu wissen.«
»Und die Tage - beziehungsweise Stunden - des Oviaten sind gezählt.«
»Des Oviaten?«
»Er heißt Dunkles Loch. Was für ein Name! Ich meine das Biest, das du unter dem Fuß hattest. Vor einer Weile hat der kleine Bursche den Maestro gebeten, ihn zu segnen. Er wird sich noch in dieser Nacht umbringen.«
»Warum sollte er das?«
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»Weil er weiß: Wenn Sartori stirbt, ist er ebenfalls erledigt -
obgleich er dem Sieger Treue geschworen hat. Der Eid nützt ihm überhaupt nichts. Nun, als sensibler kleiner Kerl möchte er den Zeitpunkt seines Todes selbst bestimmen.«
»Worauf willst du hinaus?« fragte Judith. »Legst du mir nahe, dem Beispiel von Dunkles Loch zu folgen?«
»Ich vermute, du bist gar nicht zum Selbstmord fähig«, entgegnete Celestine.
»Da hast du recht. Es gibt gute Gründe für mich, am Leben zu bleiben.«
»Mutterschaft?«
»Und die Zukunft. Für diese Stadt bahnt sich Veränderung an. Ich habe es in Yzordderrex gesehen. Wasser wird strömen...«
»Und die Große Schwesternschaft verteilt Liebe und Harmonie.«
»Warum nicht? Clem hat mir erzählt, was hier geschah, als die Göttin kam. Du warst in Ekstase - leugne es nicht.«
»Na schön. Aber glaubst du vielleicht, daß wir dadurch zu Schwestern werden? Was haben wir beide gemeinsam, abgesehen vom Geschlecht?«
Die Frage sollte verletzen, aber ihre Direktheit veranlaßte Judith dazu, Gentles Mutter mit anderen Augen zu sehen.
Warum betonte sie immer wieder, daß sich die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen aufs Weibliche beschränkten? Die Antwort lag auf der Hand: Es existierte noch eine andere Verbindung, und sie begründete Celestines Feindseligkeit. Ihre Verachtung befreite Jude von Ehrfurcht, und daraufhin fiel es ihr leicht, die Parallele zu erkennen.
Gleich zu Anfang hatte ihr die Befreite vorgeworfen, nach Koitus zu riechen. Und warum? Weil sie selbst danach stank.
Und dann die Sache mit dem Kind, die immer wieder zur Sprache kam - sie ging auf den gleichen Ursprung zurück: Celestine hatte ein Baby für die Dynastie aus Göttern und 1211
Halbgöttern geboren. Sie war mißbraucht worden, ohne jemals damit fertig werden zu können. Wenn sie gegen Jude ankämpfte - gegen die Verdorbene, die nicht ihre Sünde eingestand, sexuell und fruchtbar zu sein -, so kämpfte sie damit gegen sich selbst.
Aber was warf sie sich vor? Judith brauchte nicht lange zu
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