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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Dielen, Mörtel, Glas und die vielen anderen winzigen Details in sich auf - dann wuchs er über den Raum hinaus.
    Mit den Schwingen der Imagination glitt Gentle die Treppe hinunter und gleichzeitig zum Dach empor, dabei fühlte er, wie er zusätzliches Bewegungsmoment gewann. Der Intellekt trug noch immer die Last des Realen, klammerte sich an dem fest, was er für die Wirklichkeit hielt. Dadurch blieb er hinter einer wechselhaften Wahrnehmung zurück, die ihm Sinnbilder des ganzen Hauses vermittelte, noch bevor er den Flur erreichte.
    Erneut wurde der Körper zum Maß der Dinge. Der Keller -
    Darm; das Dach - Kopfhaut; die Treppe - Rückgrat.
    Anschließend verließen die Gedanken das Haus; stiegen über die Schindeln und schwebten durch leere Straßen. Unterwegs dachte der Maestro kurz an Sartori, der irgendwo in der Nacht lauerte. Doch seine Aufmerksamkeit verweilte nur für wenige Sekunden bei dieser Gefahr. Die Aufregung in ihm wuchs, genährt von einem neuen Erfahrungskosmos, und alles andere spielte kaum mehr eine Rolle.
    Immer schneller wurde die Reise, und damit ging Gelassenheit einher. Auf die Straßen erhob er ebenso selbstverständlich Anspruch wie zuvor auf das Haus. Sein Körper enthielt nun auch Gassen und Kreuzungen, Gärten und üppig verzierte Fassaden, Bäche und Flüsse, ein Parlament und Kirchen.
    Schon nach kurzer Zeit wurde dem Ich klar: die ganze Stadt sollte in den Leib analogisiert werden, um in Fleisch und Blut Ausdruck zu finden. Eigentlich überraschte ihn das kaum.
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    Wenn ein Architekt damit begann, eine Stadt zu planen - wo hielt er dann nach Inspirationen Ausschau? Bei sich selbst. Der eigene Leib war das erste Modell für jeden Schöpfer. Er diente als Schule und Restaurant, als Schlachthof und Kapelle. Er konnte auch Gefängnis, Bordell und Tollhaus sein. Nirgends in London gab es ein Gebäude, das nicht irgendwo in der privaten Stadt einer Architektenanatomie begonnen hatte. Gentle brauchte nur sein Selbst dieser Tatsache zu öffnen, und schon gehörten die einzelnen Viertel ihm, fügten sich der anschwellenden Fülle in seinem Kopf hinzu.
    Er flog nach Norden durch Highbury und Finsbury Park, nach Palmer's Green und Cockfosters. Er folgte dem Fluß nach Osten, vorbei an Greenwich, wo eine Uhr tickte und feststellte, wieviel Zeit noch bis Mitternacht blieb, von dort aus weiter nach Tilbury. Er wandte sich nach Westen, passierte Marylebone und Hammersmith. Der Süden brachte ihm Lambeth und Streatham, wo er zum erstenmal Pie'oh'pah begegnet war, in ferner Vergangenheit.
    Die Namen verloren rasch an Bedeutung. Der Boden zeigte Muster, wie man sie normalerweise nur als Passagier eines Flugzeugs sehen konnte: Straßen und andere Einzelheiten schrumpften und wurden dadurch Teil einer übergeordneten Struktur, die auf den Geist des Maestros einen noch größeren Reiz ausübte. Er sah den ›Wash‹ genannten Meerbusen im Osten, beobachtete im Süden das Glitzern des Kanals, dessen Wasser silbrig und glatt durch die Nacht reichte. Hier erkannte Gentle eine größere Herausforderung. Sein Körper hatte inzwischen bewiesen, einer Stadt gewachsen zu sein, aber konnte er auch mit mehr fertig werden? Nun, warum nicht?
    Das Strömen von Wasser unterlag den gleichen Gesetzen, ob es nun zwischen den Windungen in der Stirn floß oder in kontinentalen Tälern. Und die Hände... Waren sie nicht wie zwei Länder in seinem Schoß? Die aus Daumen bestehenden Halbinseln berührten sich fast, und sie präsentierten zerfurchte 1219

    Landschaften.
    Außerhalb der Maestro-Substanz existierte nichts ohne ein Äquivalent in ihr. Für alles gab es eine Entsprechung: für Meere und Städte, für Straßen, Dächer und Zimmer. Gentle befand sich in der Fünften, und die Fünfte ruhte in ihm, wartete nun darauf, zum Ana getragen zu werden - als Beweis, Landkarte und Gedicht, geschrieben als Lobeshymne auf alles, das eins war.
    In den anderen Domänen fand eine ähnliche Suche nach Einheit bringenden Analogien statt.
    Tick Raw saß in einem Steinkreis auf dem Gipfel des Berges Lipper Bayak, und sein Netz der Auflösung enthielt bereits Patashoqua und die breite Straße, die sich von den Toren der Stadt bis hin zum Gebirge erstreckte. In der Dritten Domäne verlor Scopique die Furcht, daß der fehlende Zapfen den Erfolg der Rekonziliation in Frage stellen könne, und erweiterte sein Ich über Kwem hinweg zu den Trockengebieten in der Nähe von Mai-Ke. Sicher dauerte es nicht mehr lange, bis das Selbst

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