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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Nacht erwartete. Es ging dabei nicht um Ruhm oder die Dankbarkeit der Domänen; 120
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    die Vergütung hieß vielmehr Pie'oh'pah. Gentle sah an der fleckigen Wand über dem Kaminsims hoch. Für ein oder zwei Sekunden glaubte er, das Gesicht des Mystifs zu erkennen, das mit jedem Flackern des Kerzenlichts neue Züge gewann.
    Athanasius hatte die Liebe, die ihn mit Pie verband, als profan bezeichnet, doch Gentle lehnte es auch jetzt ab, sich dieser Meinung anzuschließen. Seine Entschlossenheit als Rekonziliant und die Sehnsucht nach Pie'oh'pah - beides war Teil des gleichen Plans.
    Er schwieg nun und setzte das Gebet nicht fort. Es spielt keine Rolle, dachte er. Ich sorge dafür, daß jene Beschwörungen Wirklichkeit werden. Er stand auf, nahm eine der Kerzen und trat zum Kreis, nicht als Reisender, sondern als Maestro, der sich anschickte, ein Wunder zu vollbringen.
    Unten, im vorderen Zimmer, lag Judith auf Kissen und fühlte, wie der energetische Strom begann. Sie empfand ihn als ein fast schmerzhaftes Prickeln im Bauch, wie eine leichte Verdauungsstörung. Sie rieb die betreffende Stelle, in der Hoffnung, sich dadurch Linderung zu verschaffen, doch die dumpfen Schmerzen wichen nicht von ihr. Nach einer Weile erhob sie sich, humpelte zur Tür und überließ es Montag, Hoi-Polloi mit Worten und Werken zu unterhalten. Er nutzte den Ruß der Kerzen, um Bilder an die Wände zu malen, und erweiterte sie anschließend mit seinen Farben. Hebberts Tochter war sehr beeindruckt, und Jude hörte zum erstenmal unbeschwertes Lachen von ihr, als sie in den Flur wankte. Dort hielt Clem neben der verschlossenen Haustür Wache. Einige Sekunden lang musterten sie sich gegenseitig im Schein der Kerzen, und dann fragte Judith:
    »Fühlst du es ebenfalls?«
    »Ja. Es ist nicht sehr angenehm, wie?«
    »Ich dachte, es beträfe nur mich.«
    »Warum?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht eine Art Strafe...«
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    »Glaubst du noch immer, daß Gentle irgend etwas Unheilvolles plant?«
    »Nein«, erwiderte Judith. Sie blickte die Treppe hoch. »Ich glaube, er ist davon überzeugt, Gutes zu bewirken. Ich weiß es sogar. Uma Umagammagi hat sich in seinem Kopf umgesehen...«
    »Davon war er nicht gerade begeistert.«
    »Ob es ihm gefiel oder nicht: Sie bestätigte seine lauteren Motive.«
    »Woraus folgt...?«
    »Woraus folgt: Die Verschwörung hat ihren Ursprung woanders.«
    »Sartori?«
    »Nein. Es hat etwas mit Hapexamendios und der verdammten Rekonziliation zu tun.« Judith schnitt eine Grimasse, als der Schmerz im Bauch stärker wurde. »Ich fürchte mich nicht vor Sartori. Aber was in diesem Haus geschieht...« Sie biß die Zähne zusammen, als neuerliche Pein in ihr entflammte. »Es erfüllt mich mit Argwohn.«
    Sie sah wieder Clem an und begriff, daß er ihr - wie immer -
    als liebevoller Freund zuhörte. Aber sie konnte nicht mit seiner Unterstützung rechnen. Er und Taylor waren die Schutzengel der Rekonziliation. Wenn sie Clem und seinen körperlosen Partner zwang, zwischen ihr und der Zeremonie zu wählen, die fünf Welten zusammenführen sollte... In dem Fall zog sie den kürzeren.
    Einmal mehr erklang Hoi-Pollois Lachen, und diesmal vibrierte darin eine Verschmitztheit, in der Jude erotische Aspekte erkannte. Sie wandte sich von Clem ab, und ihr Blick fiel auf den Zugang des einzigen Zimmers im Haus, das sie noch nicht betreten hatte. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, und Kerzen brannten in dem Raum. Eigentlich durfte sie nicht damit rechnen, bei Celestine Trost zu finden - aber wer kam sonst in Frage? Judith ging zur Tür und stieß sie auf. Niemand 120
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    lag auf der Matratze, und die Kerze daneben war heruntergebrannt. Eine einzige kleine Flamme genügte nicht, um den ganzen Raum zu erhellen, und Jude hielt in den schattigen Ecken nach der Befreiten Ausschau. Schließlich sah sie Gentles Mutter: Sie stand an der gegenüberliegenden Wand.
    »Daß du mich besuchst... Ich bin überrascht.«
    Seit ihrem letzten Gespräch mit Celestine hatte Judith sehr eindrucksvolle Rhetorik kennengelernt, doch hier hörte sie etwas Einzigartiges: Dieser Frau gelang es irgendwie, gleichzeitig mit verschiedenen Stimmen zu sprechen. Lag es vielleicht daran, daß zwischen ihrem einfachen, normalen Selbst und dem vom Heiligen berührten Ich ein unüberbrückbarer Gegensatz existierte?
    »Warum bist du überrascht?«
    »Ich dachte, du bleibst bei den Göttinnen.«
    »Die Versuchung war sehr groß«, räumte Judith ein.
    »Aber schließlich hast du

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