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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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bis in die kleinsten Aspekte der Welt auszudehnen und gleichzeitig ein Gefäß zu sein, das groß genug war, um die ganze Welt aufzunehmen - ohne sich von den vielfältigen Panoramen so sehr beeindrucken zu lassen, daß man die frühere Existenzform vergaß.
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    Diese Erlebnisse brachten Vergnügen, und der Rekonziliant lachte laut, während er im Kreis saß. Der Spaß lenkte ihn jedoch nicht ab, im Gegenteil: Dadurch wurde die Aufgabe nur leichter. Von Fröhlichkeit beschwingte Gedanken flogen fort, suchten Regionen auf, in denen trotz der Nacht Helligkeit schimmerte, und kehrten wie Kuriere zurück, die mit Gedichten zum gelobten Land ausgeschickt worden waren und es nun in seiner ganzer Pracht auf den Schultern trugen.
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    Im Zimmer über dem Kreis hörte Dunkles Loch das Lachen und freute sich mit dem Liberatore - dieses Geräusch konnte nur bedeuten, daß die Rekonziliation fast vollbracht war. Der Oviat begriff nicht alle sich daraus ergebenden Konsequenzen, doch eines wußte er: Die Teilnahme an den jüngsten Ereignissen hatte ihm eine herrliche letzte Nacht im Diesseits beschert. Wenn es für Geschöpfe wie ihn ein Leben nach dem Tod gab (in dieser Hinsicht war Dunkles Loch keineswegs sicher), so konnte er seinen Ahnen eine einzigartige Geschichte erzählen.
    Schließlich beendete er seinen Freudentanz, weil er vermeiden wollte, den Rekonzilianten zu stören. Als er sich wieder dem Fenster zuwandte, um dort auch weiterhin die Pflichten des Wächters zu erfüllen, hörte er plötzlich ein Geräusch. Er lauschte einige Sekunden lang, und sein Blick glitt zur Decke. Der Wind war inzwischen ein wenig stärker geworden und zerrte an den Schindeln auf dem Dach. Das glaubte der Oviat jedenfalls - bis er sah, daß sich Zweige und Blätter des Baums vor dem Haus überhaupt nicht bewegten.
    Dunkles Loch kam nicht aus einem Volk der Helden. Eher war das Gegenteil der Fall. Die Legenden und Sagen seines Stammes betrafen berühmte Apologeten, Abtrünnige, Kneifer und Feiglinge, und als er die Geräusche hörte, verlangte der Instinkt von ihm, so schnell wie möglich ins Erdgeschoß zu 1223

    rennen. Doch um des Rekonzilianten willen kämpfte er gegen diese natürliche Regung an, blieb im Zimmer und näherte sich vorsichtig dem Fenster, um festzustellen, was auf dem Dach passierte.
    Vorsichtig kletterte er auf den Sims, beugte sich vor und spähte zum Dachvorsprung. Dunst filterte das Sternenlicht, und Dunkelheit verwehrte den Blick auf Einzelheiten. Dunkles Loch schob sich noch etwas weiter vor und spürte die harte Kante des Fenstersimses am verlängerten Rücken. Unten lachte der Maestro wieder, und diese besondere Musik wirkte beruhigend. Dem Oviaten blieb gerade noch Zeit genug, um selbst zu lächeln - dann streckte sich ihm vom Dach aus etwas entgegen, das ebenso finster war wie die Nacht, und hielt ihm den Mund zu. Der Angriff erfolgte so plötzlich, daß Dunkles Loch den Halt verlor und nach hinten kippte, aber der oder das Unbekannte hielt ihn mühelos fest und zog ihn empor. Wenige Sekunden später sah der überwältigte Wächter, was auf den Schindeln hockte, und dieser gräßliche Anblick wies ihn deutlich auf seine Fehler hin. Erstens: Aufgrund der immer noch mit Blättern zugestopften Nase hatte er diese Wesen nicht gerochen. Zweitens: Er hatte zu sehr an eine Theologie geglaubt, die postulierte, das Böse käme von unten. Doch das mußte nicht unbedingt der Fall sein. Er war so dumm gewesen, lediglich auf der Straße nach Sartori und seiner Horde Ausschau zu halten, ohne einen Gedanken an die Dächer zu verschwenden, die für so flinke und geschmeidige Geschöpfe eine leichte Route darstellten.
    Dunkles Loch zählte nur sechs Exemplare, doch sie genügten völlig. Die Gek-a-gek gehörten zu den gefürchtetsten Wesen des In Ovo, und nur ein besonders tollkühner Maestro wagte es, sie zu beschwören. Sie hatten die kräftige, muskulöse Eleganz von Tigern; ihre Pranken waren so groß wie ein menschlicher Kopf, und als Ausgleich waren ihre Köpfe so flach wie eine menschliche Hand. Wenn man sie in einem 122
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    bestimmten Licht beobachtete, erwiesen sich ihre Flanken als durchsichtig. Diesmal verharrten sie in der Dunkelheit und warteten ganz oben auf dem Dach. Die einzige Ausnahme bildete jener Gek-a-gek, der den kleinen Wächter gepackt hatte. Die Silhouetten der Oviaten verbargen ihren Maestro -
    bis er sich aufrichtete und flüsternd befahl, den Gefangenen zu ihm zu bringen.
    »Nun, Dunkles

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