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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Zimmer nach ihnen zu suchen und trat barfuß in den Flur. Dort erwies sich der Geruch als viel intensiver. Er kam von der Straße - durch die offene Eingangstür. Und von den Schutzengeln, die dort Wache halten sollten, fehlte jede Spur.
    Judith rief Clems Namen, ging durch den Korridor und wurde langsamer, als sie sich der Tür näherte. Das Licht der 1229

    Kerzen an der Treppe genügte, um etwas Glitzerndes auf der Schwelle zu erkennen. Nach kurzem Zögern setzte Jude den Weg fort, dabei erflehte sie stumm den Beistand der Göttinnen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für Clem. Bitte laßt nicht zu, daß es sein Leichnam ist, dachte sie, als ihr Blick auf blutiges Fleisch fiel.
    Ihr Gebet wurde erhört. Als Judith die Tür fast erreicht hatte, sah sie ein zerfetztes Gesicht und erkannte dessen deformierte Züge: Sartoris dämonischer Diener, Dunkles Loch - die Augen aus den Höhlen gekratzt, der vorher so geschwätzige Mund ohne Zunge. Trotzdem: An seiner Identität bestand kein Zweifel. Nur ein Geschöpf des In Ovo konnte noch immer zucken, obgleich es sich in einem solchen Zustand befand.
    Sie starrte über den blutigen Haufen hinweg zur Straße und wiederholte Clems Namen. Zuerst bekam sie keine Antwort, aber dann hörte sie einen halb erstickten Schrei.
    »Bleib im Haus! Um Himmels willen... Bleib im Haus!«
    »Clem?«
    Jude trat nach draußen, und daraufhin tönte erneut eine warnende Stimme durch die Nacht.
    »Nein! Kehr ins Haus zurück und schließ die Tür!«
    »Ich lasse dich nicht im Stich«, erwiderte sie, stieg über den Oviaten weg und entfernte sich langsamer vom Eingang.
    Dabei hörte sie etwas Seltsames, eine Mischung aus Knurren und Summen - es klang nach einem Wesen, das mit einem Maul voller Bienen grollte.
    »Wer ist da?« fragte Jude.
    Stille schloß sich an, aber sie wußte, daß nur ein wenig Geduld notwendig war, um Auskunft zu erhalten - eine Auskunft, deren Inhalt sie bereits erahnte. Nur der Tonfall stellte eine Überraschung dar: Kummer erklang in der Stimme.
    »Es sollte nicht auf diese Weise geschehen...«, sagte Sartori.
    »Wenn Clem irgend etwas zugestoßen ist...«, begann Judith.
    »Ich möchte niemandem ein Leid zufügen.«
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    Eine Lüge. Andererseits: Gentles Bruder würde Clem kein Haar krümmen, solange er ihn als Geisel benötigte.
    »Gib Clem frei«, sagte Jude.
    »Kommst du dann zu mir?«
    Sie zögerte, bevor sie antwortete - um nicht zu bereitwillig zu erscheinen.
    »Ja. Dann komme ich zu dir.«
    »Nein!« rief Clem. »Nein! Erist nicht allein.«
    Judiths Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und daraufhin sah sie die Begleiter des ehemaligen Autokraten: schlanke, gräßliche Geschöpfe, die hin und her liefen. Eines von ihnen richtete sich auf und schärfte seine Krallen an einem Baum. Ein anderes hockte am Straßenrand, nahe genug, um Jude einen Blick durch die transparente Haut zu gewähren; Eingeweide pulsierten in dem Leib. Doch die Häßlichkeit dieser Wesen bereitete der Frau kein Unbehagen. Am Rand eines jeden Dramas sammelte sich so etwas an: nicht mehr benötigte Charaktere, schmutzige Kostüme, gesplitterte Masken. Es handelte sich um Belanglosigkeiten, und Sartori hatte solche Gefährten gewählt, weil er... sich mit ihnen verwandt glaubte? Judith begegnete ihnen in erster Linie mit Mitgefühl, und das galt auch für ihren Herrn und Meister, den gefallenen Herrscher.
    »Ich möchte Clem hier auf dieser Stufe sehen, bevor ich zu dir komme«, sagte sie.
    Eine kurze Pause, und dann erwiderte Sartori:
    »Ich bin bereit, dir zu vertrauen.«
    Seinen Worten folgten seltsame Laute von den Oviaten in der Finsternis, und Judith beobachtete, wie sich zwei von ihnen aus den Schatten schoben, mit Clem zwischen ihnen - seine Arme steckten in ihren Rachen. Sie kamen nahe genug, um es der Frau zu ermöglichen, die Gier in ihren Augen zu sehen.
    Und dann spuckten sie ihren Gefangenen von sich. Clem fiel hin, schleimiger Speichel klebte ihm an Händen und Armen.
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    Jude wollte ihm zu Hilfe eilen, doch jenes Wesen, das bis eben seine Krallen am Baum geschärft hatte, drehte sich nun um und senkte den flachen Kopf. In den Augen - sie waren so schwarz wie die eines Hais - gleißte es, als das Geschöpf zu der Gestalt vor dem Haus hinsah und bereits ihr lebendes Fleisch zu kosten schien. Judith fürchtete, daß es sich zu einem Angriff hinreißen ließ, wenn sie sich bewegte, und deshalb verharrte sie auf der Stufe, während sich Clem in die Höhe stemmte.

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