Imagica
Als Sartori schluchzte, mußte sie sich sehr beherrschen, um nicht ihre wahren Motive preiszugeben. Sie überließ ihn seinem Schmerz und hoffte, daß ihn die Pein dazu veranlassen würde, den Ballast des Wissens abzustreifen und mit ihr zu teilen. Aber wahrscheinlich mußte er erst noch lernen, ganz offen zu sein und sein Herz auszuschütten.
»Es wird kein Kind geben...«, sagte er. »Zumindest nicht für uns beide.«
»Warum nicht?« Judith versuchte auch weiterhin, optimistisch zu klingen. »Wir können jetzt gleich aufbrechen, wenn wir möchten. Viele Welten stehen uns offen, und bestimmt finden wir irgendwo ein Versteck.«
»Es gibt keine Verstecke mehr«, kam es von Sartoris Lippen.
»Wir finden eines«, betonte Jude noch einmal.
»Nein. Unmöglich.«
Gentles Bruder wich nun zurück, und Judith war dankbar für seine Tränen: Sie schufen einen Vorhang zwischen seinem Blick und ihrem Doppelspiel.
»Ich habe dem Rekonzilianten gesagt, daß ich mein eigener Zerstörer bin...«, erklärte Sartori. »Ich habe ihm gesagt, daß ich 1237
mich gegen meine eigenen Werke verschwöre. Doch dann fragte ich mich: Mit welchen Augen sehe ich das alles? Und weißt du, wie die Antwort lautet? Mit den Augen meines Vaters, Judith. Mit meines Vaters Augen...«
Plötzlich entsann sich Jude an Clara Leash: der Mann als Zerstörer, der bewußt und absichtlich die Saat des Verderbens ausbrachte. Gab es ein besseres Symbol für alles Männliche als den Gott in der Ersten Domäne?
»Wenn ich meine Werke mit Seinen Augen sehe und sie vernichten möchte...«, murmelte Sartori. »Was sieht Er dann?
Was will Er ?«
»Die Rekonziliation«, sagte Jude.
»Ja. Aber warum? Die Zusammenführung der Domänen ist kein Anfang, sondern das Ende. Wenn Imagica eins ist, wird Er die fünf Welten mit Unheil heimsuchen.«
Jetzt trat Judith einen Schritt zurück.
»Woher willst du das wissen?«
»Ich glaube, ich habe es immer gewußt.«
»Und trotzdem hast du geschwiegen? All das Gerede von der Zukunft...«
»Ich wollte es mir nicht eingestehen. Ich wollte an der Überzeugung festhalten, mein eigener Herr zu sein. Das verstehst du sicher. In deinen Augen zeigte sich der gleiche Kampf: Auch du hast dich dagegen gesträubt, die Realität zu akzeptieren. Mir geht es genauso. Ich konnte einfach nicht zugeben, eine Marionette zu sein.«
»Weshalb bist du jetzt dazu imstande?«
»Jetzt sehe ich dich mit meinen Augen. Ich liebe dich mit meinem Herzen. Ja, ich liebe dich, Judith, und das bedeutet: Ich bin frei. Ich unterliege nicht mehr Seinem Willen. Und deshalb kann ich eingestehen, was... ich... weiß.«
Mehr Tränen quollen ihm in die Augen, doch er hob nicht die Hände, um sie fortzuwischen. »Es gibt kein Versteck für uns, Liebste. Wir haben noch einige Minuten für uns - einige 123
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herrliche Minuten. Und dann ist es vorbei.«
Jude hörte jedes einzelne Wort, aber ihre Gedanken glitten auch zum Haus hinter ihr. Sie dachte an Uma Umagammagis Worte, an den Enthusiasmus und die Leidenschaft des Maestros. Sie dachte auch daran, daß ihr Eingreifen unvorstellbare Katastrophen heraufbeschwören mochte.
Dennoch begriff sie: Die Rekonziliation mußte verhindert werden.
»Noch können wir ihn aufhalten«, sagte sie zu Sartori.
»Es ist zu spät«, entgegnete er. »Laß ihm seinen Sieg. Ich kenne eine bessere und reinere Möglichkeit, ihm zu trotzen.«
»Welche?«
»Unser gemeinsamer Tod.«
»Wir trotzen Gentle nicht, indem wir sterben«, erwiderte Judith. »Dadurch besiegeln wir nur unsere Niederlage.«
»Ich möchte so nicht weiterleben. Es erscheint mir viel erstrebenswerter, mit dir zusammen zu sterben. Ein Tod ohne Qual...«
Sartori öffnete die Jacke. Zwei Messer steckten in seinem Gürtel, und ihre Klingen blitzten im Flackern des leuchtenden Strangs. Doch in den Augen des früheren Herrschers brannte ein noch helleres und gefährlicheres Feuer. Die Tränen waren inzwischen getrocknet, und er wirkte fast glücklich.
»Es ist der einzige Ausweg«, behauptete er.
»Ich kann nicht.«
»Wenn du mich wirklich liebst, so folgst du mir in den Tod.«
Judith machte ihre Arme frei und löste sich aus Sartoris Griff.
»Ich möchte leben.«
»Verlaß mich nicht.« Es war eine Bitte - und gleichzeitig eine Warnung. »Wenn du auch nur etwas für mich übrig hast, so liefere mich nicht meinem Vater aus.«
Er zog die Messer, trat näher und bot ihr das Heft der einen Klinge an, wie ein Händler, der Selbstmord verkauft. Judith
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