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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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nur noch.
    »Sag es mir.« Judith wollte Zärtliches von ihm hören.
    Über die Schulter hinweg sah er zu seiner Horde hin. Judith wußte nicht, ob er irgendwelche Worte an sie richtete - für sie blieb alles still. Doch die Wesen wichen zurück und duckten sich unterwürfig. Als sie in der Finsternis verschwanden, hob Sartori die Hände zu Judes Gesicht und tastete mit den Daumen nach ihren Mundwinkeln. Es stieg noch immer warme Luft 123
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    vom heißen Asphalt auf, aber die Haut des ehemaligen Autokraten war kalt.
    »Was auch immer geschieht - uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte er. »Deshalb komme ich gleich zum Kern der Sache. Es gibt keine Zukunft mehr für uns. Gestern existierte vielleicht noch eine, aber inzwischen hat sich diese Chance verflüchtigt...«
    »Ich dachte, du wolltest hier ein zweites Yzordderrex bauen.«
    »Ja, das war meine Absicht. Und hier habe ich ein perfektes Modell.« Sartoris Daumen strichen nun über die Lippen. »Eine Stadt nach deinem Ebenbild. Schönheit und Pracht, um diese jämmerlichen Straßen zu ersetzen.«
    »Aber?«
    »Aber es bleibt nicht genug Zeit, Liebste. Mein Bruder führt die Domänen zusammen, und wenn er sein Werk vollbracht hat...« Er seufzte und sprach noch leiser. »Wenn er es vollbracht hat...«
    »Was dann?« fragte Judith. Etwas in ihm wünschte sich, eine bestimmte Information mit ihr zu teilen, doch ein anderer Ich-Faktor verlangte Schweigen.
    »Wie ich hörte, bist du nach Yzordderrex zurückgekehrt«, sagte Sartori.
    Judith verzichtete darauf, ihn zu bitten, den vorher begonnenen Satz zu beenden. Sie wußte, daß sie ihn nicht zu sehr unter Druck setzen durfte, und deshalb antwortete sie.
    Wenn sie sich in Geduld übte, gab er vielleicht erneut dem Zweifel nach. Sie bestätigte ihren neuerlichen Transfer nach Yzordderrex und erwähnte einen veränderten Palast. Dieser Hinweis weckte Sartoris Interesse.
    »Wer hat ihn übernommen? Doch nicht Rosengarten, oder?
    Wohl kaum. Die Mangler? Der verdammte Priester namens Athanasius...?«
    »Nein.«
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    »Wer?«
    »Die Göttinnen.«
    Der leuchtende Strang am Kopf von Gentles Bruder erzitterte - ein Anzeichen von Betroffenheit?
    »Sie sind immer präsent gewesen«, fuhr Judith fort.
    »Zumindest eine von ihnen, eine Göttin namens Uma Umagammagi. Hast du jemals von ihr gehört?«
    »Legenden...«
    »Sie weilte im Zapfen.«
    »Ausgeschlossen«, erwiderte Sartori sofort. »Der Zapfen gehört dem Unerblickten. Ganz Imagica gehört Ihm.«
    Zum erstenmal hörte Judith so etwas wie Demut und Respekt in Sartoris Worten.
    »Und wir?« fragte sie. »Gehören wir Ihm ebenfalls?«
    »Vielleicht nicht. Es kommt darauf an. Er ist der Vater. Und Er will, daß man Ihm gehorcht, auch jetzt...« Wieder folgte eine qualvolle Pause, und diesmal endete sie mit einem Anliegen. »Bitte, umarme mich.«
    Jude erfüllte ihm diesen Wunsch. Seine Hände verließen ihr Gesicht, glitten durchs Haar und hinter den Kopf.
    »Ich hielt es für göttlich, Städte zu bauen«, murmelte Sartori.
    »Ich dachte - wenn ich eine Stadt für die Ewigkeit baue, so bin auch ich selbst ewig. Aber früher oder später vergeht alles...«
    Judith spürte nun eine Verzweiflung, die das völlige Gegenteil von Gentles visionärem Eifer darstellte. Die beiden Brüder schienen ihr Leben vertauscht zu haben: Aus dem ungläubigen und treulosen Liebhaber Gentle wurde jemand, der nur noch an Heiliges dachte; und Sartori, einst Herrscher über ein Reich, das er in ein Inferno verwandelt hatte, bot Liebe als seine letzte Rettung an.
    »Gibt es für Gott eine wichtigere Aufgabe, als Städte zu bauen?« fragte Jude leise.
    »Keine Ahnung«, sagte Sartori.
    »Nun, vielleicht geht es uns nichts an«, meinte Judith und 123
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    heuchelte Gleichgültigkeit gegenüber solchen Dingen.
    »Vergessen wir den Unerblickten. Wir haben uns. Wir haben das Kind. Wir können so lange zusammen sein, wie wir wollen.«
    Diese Gefühle enthielten genug Wahrheit und Hoffnung darauf, daß die geschilderte Vision Wirklichkeit werden könne, um Judith leiden zu lassen - es widersprach ihrem Wesen, solche Empfindungen für Manipulationen zu nutzen. Sie hatte nun dem Haus und allen Personen darin den Rücken gekehrt, hörte aber im Flüstern des Geliebten ein Echo des Zweifels, der sie zur Ausgestoßenen stempelte. Aus diesem Grund war sie bereit, Emotionen als Werkzeug zu benutzen, um das Rätsel zu lösen. Der Umstand, daß ihre Taktik zum Erfolg führte, blieb ohne Einfluß auf den Kummer.

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